Der Beitritt der Schallplatte

Wie altes Vinyl aus den »neuen Bundesländern« über Umwege auch neu geblieben ist

  • Martin Anders
  • Lesedauer: 3 Min.

Schallplatten protzen noch immer in vielen Wohnungen, manchmal stehen sie auch nur verschämt in der Ecke. Aber wegwerfen - wer wirft schon Schallplatten weg? Häufig ist der Plattenspieler längst im Keller geerdet oder entsorgt. Dann ist es Zeit, die Platten auch in den Keller zu bringen, sie zu verschenken oder sie pfiffig bei Ebay anzubieten, wenn man das Handwerk versteht.

Die Schallplatten leiden den Büchern gleich: Als Erbgut sind sie nur Ballast. Beim Verschenken oder »Spenden« muss man sich noch bedanken. Der CD-Player ist in die Fernseheinheit integriert, außerdem gibt es Kulturkanäle. Das Wunschkonzert findet, falls noch gewünscht, über Spotify ohne Wegnahme von Wohnraum gegen eine geringe Gebühr allumfassend statt.

Wir ordneten uns stattdessen, kauften einen Plattenspieler um die 200 Euro. Zum Verstärker des CD-Players kam nun die Plattenspielerkabelei, mit oder ohne Vorverstärker. Ein dankenswerter Griff fremder Hilfe, und nach Reinigung mit Pinsel und Antistatiktuch hörten wir wieder Schallplatte. Das Wunder des analogen Tones berührte unsere Haut. Eine neue alte Welt. Natürlich hatten wir Lieblingsplatten, der Verschleiß war merkbar, besonders durch das automatische Auflegen des Tonarms. In einer Haydn-Hülle entdecken wir die Biermann-Platte wieder, bei Mozart dann die Neuss/Biermann-Platte. Sie ahnen also schon, hier schreibt einer aus den neuen Ländern.

Wir wurden süchtig. Zufällig lernten wir anlässlich eines feierlichen Totengedächtnisses einen Musik- und Schallplatten-Enthusiasten kennen. Bei aller Pietät - der Verstorbene war auch ein aktiver und passiver Musikfreund - kamen wir ins Fachplaudern. Er riet uns, unseren Eifer anheizend, zu einer Plattenwaschanlage. Es geschah ein Wunder, die Töne waren ohne Rauschen, die Brillanz der Töne wundervoll.

Also suchten wir auch bei Ebay unter »Schallplattensammlung, Klassik«. Uns gelangen wundersame Käufe: Das Porto um die sechs Euro war häufig preiswerter als die neu erworbenen, gebrauchten Schallplatten. Natürlich wurden sie alle gewaschen, im Duo regelmäßig etwa 30 bis 60 Platten. Abends belohnten wir uns mit einem Glas Wein und hörten die Neuerwerbungen.

Die Plattenpakete kamen meist aus den alten Ländern, aus Nürnberg, Osnabrück, Oerlinghausen … Wir entdeckten: Die haben ja auch Eterna- und Supraphon-Platten. Haben wir doch auch. Aber die Platten hatten etwas Besonderes: Nach der Reinigung klangen sie wie ungespielt. Wir waren verwundert. Bald kam die Erleuchtung: Das Schallplattenetikett/Label hatte bei vielen dieser Platten nie das Mittelloch gefühlt. Sie waren neu, ungespielt.

Wir tranken noch ein Glas Wein. Dann ahnten wir eine Erklärung: Es sind genau die Schallplatten, die wir für unseren lieben Freunde und Verwandten ausgesucht hatten. Wunderbare Aufnahmen mit international bekannten Besetzungen. Wir mussten unseren Verdacht, das Mysterium bestätigen. Wieder Eterna, das Etikett unversehrt.

Sollten wir recht haben? Es sind unsere, die hilflosen Geschenke der ahnungslosen Bürger der neuen Länder. Wie haben wir uns über die Pakete gefreut, Öffnung erst am Heiligen Abend unter dem Weihnachtsbaum. Freude bei Groß und Klein. Die Schokolade, der Kaffee, die gefüllten Schokoherzen und Socken. Und für ein Paket konnten die lieben Freunde und Verwandten noch 30 DM von der Steuer abschreiben.

Nach dem Beitritt besuchten auch wir die Discounter unserer Brüder und Schwestern in den alten Ländern. Wie merkwürdig … Dank für alle Pakete.

Bleibt bei uns die Scham des gut gemeinten, schon ab Januar gesuchten Geschenks. Es kam in die Ablage. Achtung, die Kinder stellen die Geschenke bei Ebay ein. Wir fühlen uns erneut beschenkt. Dank für die preiswerten neuen Schallplatten. Wir trinken ein Glas Wein auf unseren »Beitritt« und legen eine Platte auf, die wir verschickt, aber selbst nie gehört haben.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal