Werbung

Anrufe aus dem Kanzleramt

Im Vorfeld der Beratungen über schärfere Corona-Regeln blickt Angela Merkel besorgt nach Berlin

  • Mischa Pfisterer
  • Lesedauer: 4 Min.

Sind strengere Regeln zur Eindämmung der Pandemie nötig? Darüber hat der Berliner Senat am Dienstag beraten, unter anderem mit Christian Drosten, Direktor des Instituts für Virologie am Berliner Universitätsklinikum Charité. Der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) hatte bereits im Vorfeld der Sitzung die Bevölkerung auf eine mögliche Verschärfung der Corona-Regeln eingestimmt. »Ich glaube schon, dass wir etwas neu verabreden werden« sagte Müller. Konkrete Beschlüsse standen allerdings bei Redaktionsschluss noch aus.

Vor allem die Innenstadtbezirke Mitte, Friedrichshain-Kreuzberg und Neukölln melden derzeit viele bestätigte Neuinfektionen und hohe Inzidenzwerte von weit mehr als 30. Die Inzidenz gibt an, wie viele Menschen pro 100 000 Einwohner sich innerhalb von sieben Tagen mit Corona infizieren. Der Gesundheitsstadtrat von Friedrichshain-Kreuzberg, Knut Mildner-Spindler (Linke), rechnet damit, »dass es im Bereich der privaten Feiern zu Beschränkungen kommen kann.« Im Raum steht eine Höchstgrenze von 25 Personen in geschlossenen Räumen sowie 50 Personen unter freiem Himmel.

Corona-Fälle in Berlin

Das Berliner Corona-Warnsystem aus drei Ampeln zeigt weiter zweimal Grün und einmal Gelb an. Der Reproduktionswert für die vergangenen vier Tage lag am Montag bei 1,05 - so viele Menschen steckt ein Corona-Infizierter durchschnittlich an.

Auch bei der Auslastung der Intensivbetten rangiert Berlin mit 1,8 Prozent weiter im grünen Bereich.

Die Zahl der Neuinfektionen gibt keinen Anlass zur Entwarnung: Pro 100 000 Einwohner steckten sich in den vergangenen sieben Tagen 28,7 Menschen an. Am Vortag waren es 28,3.

Am Montag wurden 131 Neuinfektionen gemeldet. Damit stieg die Zahl auf 14 326 Corona-Fälle. 12 457 Betroffene (plus 150) gelten als genesen, die Zahl der Todesfälle liegt unverändert bei 228. Mischa Pfisterer

Diese Beschränkungen, so sieht es der Entwurf der Senatsgesundheitsverwaltung vor, sollen jedoch erst greifen, sobald in ganz Berlin die Grenze von 30 Infektionen je 100 000 Einwohner in den jeweils vergangenen sieben Tagen überschritten wird. Zurzeit liegt die Zahl bei 28,7 (siehe Kasten).

Der Sitzung am Dienstag waren in der vergangen Woche mehrere Beratungen der stark betroffenen Innenstadtbezirke mit Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD) vorausgegangen. Änderungen in der Infektionsschutzverordnung beschließen kann allerdings nur der Senat - von lang anhaltenden Abstimmungen am Dienstag war aus Senatskreisen zu hören.

Im Gespräch ist auch, Gastronomie, illegale Partys sowie private Feiern künftig stärker und gezielter zu kontrollieren, als es bisher der Fall war. Das von der Gesundheitssenatorin immer wieder ins Gespräch gebrachte Alkoholverbot ist wohl vom Tisch. »Reiner Aktionismus«, heißt es dazu aus den Reihen der Grünen. Und auch bei der Linkspartei sieht man etwaige Schnellschüsse kritisch und lehnt »pauschale Regelverschärfungen ab«, wie es aus Parteikreisen heißt.

Auch Gesundheitsstadtrat Mildner-Spindler sieht ein Alkoholverbot kritisch. »Wenn wir den Spätis das in gewissen Bereichen untersagen, dann kaufen die Menschen den Alkohol eben woanders.« Schnell als Schuldige ausgemacht seien die »feierwütigen«, die »unvernünftigen« jungen Menschen. »Wir brauchen gerade in der Zielgruppe viel mehr Aufklärung, damit unsere Maßnahmen auch Akzeptanz finden,« so Mildner-Spindler zu »nd«. Allerdings war auch nach dem Gallery-Weekend Mitte September eine Häufung von Covid-19-Fällen zu verzeichnen.

Für reichlich Irritationen sorgte eine angebliche Äußerung von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) im Vorfeld der Beratungen mit den Länderchefs über das weitere Vorgehen in der Coronakrise am Dienstagnachmittag. »Es muss in Berlin was passieren«, wurde Merkel zitiert. »Die Äußerungen der Bundeskanzlerin spielten bei unseren Beratungen am Vormittag keine Rolle«, erklärt Stadtentwicklungssenator Sebastian Scheel (Linke) am Mittag in der Senatspressekonferenz. Ein Bezirkspolitiker berichtet zudem irritiert von Anrufen aus dem Kanzleramt bei den Gesundheitsämtern, »wo man sich nach der Situation vor Ort erkundigen wolle«.

»Ja, momentan gibt es Spitzen in der Kontaktverfolgung, vor allem nach den Wochenenden, die sind eine Herausforderung für unser Gesundheitsamt«, sagt Mildner-Spindler. Man erfülle jedoch die Vorgabe des Robert-Koch-Instituts, fünf Mitarbeiter pro 20 000 Einwohner bereitzuhalten. Durch inzwischen 18 Neueinstellungen stehe man deutlich besser da als im Frühjahr.

Gudrun Widders, Amtsärztin in Spandau, blickt hingegen mit Sorgen auf die steigenden Zahlen nicht nur im Zentrum. »Auch in Spandau haben in den letzten Tagen die Fälle zugenommen. Offenbar funktioniert es mit der Vernunft der jungen Leute nicht mehr so«, sagt die Leiterin des bezirklichen Gesundheitsamts zu »nd«. Auch in Spandau ist die Gruppe der 20- bis 40-Jährigen führend bei den neuen Corona-Fällen.

In Widders Behörde traten am Montag 13 Bundeswehrsoldaten ihren Dienst an. »Gerade weil es mitunter so komplex ist, die Kontakte nachzuverfolgen, freue ich mich über diese Unterstützung sehr.« Als einziger Bezirk verzichtet Friedrichshain-Kreuzberg darauf - die Mehrheit aus Grünen und Linken im Bezirksparlament lehnt den Einsatz von Soldaten ab. Die SPD fordert, das Angebot der Bundeswehr in Anspruch zu nehmen.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal