»Der Halle-Prozess setzt neue Maßstäbe«

Nebenklageanwältin Kristin Pietrzyk über den Attentäter, die Betroffenen und die Unterschiede zum Prozess gegen die Gruppe Freital

  • Max Zeising
  • Lesedauer: 4 Min.

Frau Pietrzyk, der Angeklagte Stephan B. zeigt im Prozess bislang keine Reue. Vielmehr macht er den Anschein, als würde er seine Tat, wenn er denn könnte, wiederholen wollen. Hat Sie dieses Verhalten überrascht?

Das Verhalten hat mich nicht überrascht, weil der Angeklagte einem Tätertypus angehört, dem die Botschaft wichtiger ist als die Tat. Diese Täter wollen erreichen, dass ihre Taten rezipiert werden. Sie wollen erreichen, dass andere ihre Tat nachmachen, besser machen. Deshalb streamte er seine Tat auch live ins Internet. Wenn er Reue zeigen würde, wäre das eine Absage an seine potenziellen Nachahmer.

Kristin Pietrzyk
Die Jenaer Juristin ist Nebenklage-Anwältin im Prozess gegen den Attentäter von Halle. Zuvor saß sie auch schon im Prozess gegen die rechtsradikale Gruppe Freital. Mit ihr sprach Max Zeising.

Zu Beginn des Prozesses kamen Angehörige des Attentäters zu Wort. Es wurde offensichtlich, dass Stephan B. in einem Umfeld aufwuchs, in dem seine Ideologie offenbar gedeihen konnte. Woher kommt dann die These vom »einsamen Wolf«, der allein und ohne Rückhalt einer Gruppe handelt?

Das ist ein falsches Verständnis von »einsamer Wolf«. Eigentlich sagt dieser Begriff nur, dass die Tat allein begangen wird. Die Ideologisierung und Radikalisierung findet aber nicht allein statt. Der Angeklagte war selbst bei der Tatausführung nicht allein, er war mit seinen Anhängern über das Internet verbunden. Stephan B. ist also kein Einzeltäter. Wir müssen wegkommen von dem Bild, das wir haben: dass es, um eine rechte Community zu bilden, Kameradschaftsabende mit physischer Präsenz braucht.

Später kamen dann die Opfer des Anschlags zu Wort. Warum ist es so wichtig, ihnen eine Stimme zu geben?

Zunächst einmal würde ich mich gegen das Wort »Opfer« wehren. Diese Menschen sind ganz starke Persönlichkeiten, die durch diese Tat traumatisiert sind, die sich aber dem Kampf gegen rechte Strukturen stellen. Die sind nicht schwach, die sind ziemlich stark. Und die sehen im Halle-Prozess gerade einen großen Moment vor allem jüdischer Selbstermächtigung vor deutschen Gerichten.

Welchen Eindruck haben Sie vom Prozess insgesamt? Wird er Ihren Erwartungen bislang gerecht?

Bei Erwartungen dürfen Sie nicht die Rechtsanwältin fragen, sondern die Betroffenen. Ich kann aber sagen: Der Halle-Prozess setzt neue Maßstäbe. Es ist das erste Verfahren, das vollumfänglich akustisch aufgezeichnet wird. Das war ein total mutiger Schritt des Senats und eröffnet damit die Möglichkeit, nachzuvollziehen, wie diese Tat geschehen konnte und welche Strukturen dahinter stehen. Ebenso setzt das Oberlandesgericht Naumburg neue Maßstäbe im Umgang mit Betroffenen, verschafft ihnen Gehör. Dafür muss man dem Senat Respekt zollen.

Sie saßen auch im Prozess gegen die Gruppe Freital. Ist diese als rechtsextremer Akteur in irgendeiner Weise mit Stephan B. vergleichbar?

Es gibt eine signifikante Schnittmenge: Beide Akteure haben als Initialzündung für ihre Taten das Jahr 2015 angegeben. Faktisch nutzen sie damit die rassistische Mobilisierung, die es seit 2015 gegeben hat und der nicht widersprochen worden ist, als Rechtfertigung ihrer Taten.

Was hätten Staat und Gesellschaft dagegen tun müssen?

Erstens: Man hätte diejenigen, die sich dieser rassistischen Mobilisierung entgegenstellen, nicht kriminalisieren dürfen, sondern fördern und unterstützen müssen. In Sachsen wurden Menschen, die sich zusammen mit den Bewohnern der Geflüchtetenunterkunft dagegenstellten und ein buntes und lautes Zeichen setzten, vom Verfassungsschutz als linksextremistisch eingestuft. Das ist eine Stigmatisierung, die möglicherweise zu einer Abschreckung führt. Zweitens: Man darf Rassisten nicht ernst nehmen, man muss ihnen das Handwerk legen. Drittens: Wir brauchen eine Kultur der absoluten Ausgrenzung von völkisch-nationalistischem Denken.

Auch die Mitglieder der Gruppe Freital kommen aus einem Umfeld, in dem sie ihre Aktivitäten offenbar ohne gesellschaftliche Gegenwehr ausüben konnten. Ist dieses Umfeld der gemeinsame Nenner der beiden Akteure und insgesamt der wichtigste Faktor für das Entstehen von Rechtsterrorismus?

Das Umfeld ist ein Faktor. Wir sehen bei beiden Akteuren ein Umfeld, das mindestens nicht widersprochen hat, ich würde sogar sagen: das durch Schweigen zugestimmt hat. Im Halle-Prozess sprach der ehemalige Lebensgefährte der Schwester des Angeklagten. Er beschrieb einen verbalen Übergriff des Angeklagten auf zwei Personen, die sich nicht auf Deutsch artikulieren konnten. Da ist nichts gesagt worden. Dieses Nichts-Sagen empfinden diese Menschen als Zustimmung. Das Gleiche ist bei der Gruppe Freital passiert: Wenn eine rassistische Facebook-Seite über 2000 Likes hat, fühlen sich diese Leute bestärkt. Dieses Umfeld ist mindestens mitschuldig.

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