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  • Beilage zur Buchmesse Frankfurt Main

Krise, Hoffnung und Wahn

Vladimir Sorokin hat mit »Violetter Schnee« das passende Buch zur Pandemie geschrieben

  • Norma Schneider
  • Lesedauer: 5 Min.

Menschen verlassen ihre Häuser nicht mehr, leben in ungewohnter Enge zusammen und warten auf das Ende einer Katastrophe, die das normale Alltagsleben unmöglich gemacht hat. Sie vertreiben sich die Zeit mit Musik, Alkohol und Gesprächen. Gekocht wird, was die Vorratskammer hergibt. Die Isolation zehrt an den Nerven: Streit, Angst und Wahn greifen um sich.

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Vladimir Sorokin: Violetter Schnee.
A. d. Russ. v. Dorothea Trottenberg, m. Steinfotogr. v. Thomas Lucker.
Ciconia Ciconia, 128 S., geb., 25 €.

Was wie eine Beschreibung des Lebens im Lockdown klingt, ist das Szenario von Vladimir Sorokins Text »Violetter Schnee«, der Vorlage für die gleichnamige Oper von Beat Furrer war, die im Januar 2019 in der Berliner Staatsoper Unter den Linden Premiere feierte. Es geht darin jedoch nicht um eine ansteckende Krankheit, sondern um eine »Schneeanomalie«: Ganz Europa ist meterhoch eingeschneit, und wie Millionen andere sind die fünf Freund*innen, von denen Sorokin erzählt, in einem Haus eingeschlossen und von der Außenwelt abgeschnitten.

Zeitlich passend als Kommentar zur Pandemie ist »Violetter Schnee« in der Übersetzung von Dorothea Trottenberg jetzt in einer aufwendig gestalteten Ausgabe erstmals als Buch erschienen. Steinfotografien von Thomas Lucker ergänzen den Text: Wie in einem Schneegestöber sind die Menschen und Häuser auf diesen Bildern nur schemenhaft zu erkennen. Während im Text die Figuren von innen auf den Schnee blicken, der sie umschließt, betrachten die Fotografien die Menschen durch den Schnee hindurch.

Sorokin gilt als wichtigster Autor der zeitgenössischen russischen Literatur. Seine Bücher unterhalten mit originellem Witz und irritieren gleichzeitig mit ihren drastischen Schilderungen und der Erkundung von menschlichen Abgründen. Sorokins Spezialität sind erschreckende Zukunftsszenarien, die ohne die typischen Klischees dystopischer Romane auskommen. Nicht immer entwirft er dabei, wie in seinem großen Roman »Telluria«, ganze zukünftige Gesellschaften, in denen die problematischen Tendenzen der Gegenwart sich zur vollen Blüte entfaltet haben.

»Violetter Schnee« ist ein Kammerspiel, das nur wenige Szenen und Dialoge benötigt, um viele aktuelle gesellschaftliche Themen zu entfalten und zu reflektieren. Die Gespräche zwischen den fünf Charakteren sind teilweise banal alltäglich, teilweise überhöht und existenziell. Neben Diskussionen über das Essen (meist Reis mit Hundefutter) sind auch Religion und Sinnfragen Thema. Auch Seitenhiebe auf die klischeehaften westeuropäischen Vorstellungen von Russland fehlen nicht. Die einzelnen Repliken sind treffend und mit feiner Ironie formuliert.

Das wichtigste Thema ist der Ausnahmezustand, in dem sich die Protagonist*innen befinden. Man ist sich einig: Es handelt sich um einen tiefen Einschnitt in die Normalität, nach dem nicht einfach alles wie gewohnt weitergehen kann. Aber wie wird dieses »Danach« aussehen? Kommt die eigentliche Katastrophe erst noch, wenn die Temperaturen steigen und ganz Europa im Schmelzwasser versinkt? Oder ist die Krise eine Gelegenheit, zu lernen und sich zu verbessern? Wird man gestärkt aus ihr hervorgehen und einen neuen, besseren Alltag schaffen?

Während die einen sich ganz gut mit der Situation arrangiert haben und versuchen, das Beste daraus zu machen, warten andere verzweifelt und voller Angst auf Rettung. Als treffenden Kommentar zur Coronakrise lassen sich die geschilderten Versuche der Figuren lesen, der Krise einen Sinn zu geben. Auf die Frage »Wozu das alles?« antwortet eine: »Damit wir das normale Leben wieder mehr zu schätzen wissen.«

Einschränkungen und Mangel werden romantisiert, wenn der Tee aus alten Tannennadeln nicht als Improvisation aus der Not heraus wahrgenommen wird, sondern als Verbesserung, da gekaufter Tee ungesund sei. Die Hoffnungsvollen sehen in der Krise eine Gelegenheit zur Selbstoptimierung: »Wenn der Schnee schmilzt, kommen wir hier gesund und jung heraus.« Das erinnert an die Stimmen zu Beginn der Corona-Pandemie, die im neoliberalen Duktus dazu aufriefen, die Krise produktiv zu nutzen, etwa mit Sport oder Weiterbildung.

Zu den eingeschneiten Freund*innen dringen nur wenige Nachrichten aus der Außenwelt, nur manchmal lassen sich Wortfetzen im Autoradio empfangen. Internet gibt es nicht. Trotzdem werden die vorhandenen Bücher nicht gelesen, sondern verheizt. Das erinnert an Sorokins letzten Roman »Manaraga«, der von einer Zukunft erzählt, in der nicht mehr gelesen wird und Bücher in Ritualen für ein zahlungskräftiges Publikum verbrannt werden.

Um die Ungewissheit und das Zusammenleben auf engstem Raum erträglich zu machen, entwickelt auch die eingeschneite Gruppe Rituale. Gemeinsame improvisierte Konzerte werden zu Gebeten und Preisungen, die anfangs wie ein ironischer Spaß wirken und bald immer wahnhafter klingen, etwa wenn im Chor die »Speise, die uns sättigt«, und die Möbel, die zu Brennholz werden, geehrt werden.

»Je dichter der Schnee, desto seltsamer die Träume«, heißt es an einer Stelle. Es ließe sich ergänzen: Je länger die Isolation, desto seltsamer das Verhalten der Isolierten. Als es schließlich zu schneien aufhört und eine violette Sonne über den Schneemassen aufgeht, scheint vieles möglich. Der kollektive Wahnsinn genauso wie die endgültige Katastrophe - oder der erhoffte Neuanfang.

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