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- Versammlungsfreiheitsgesetz
Radikale Kritik ist kein Verbrechen
Meine Sicht: Marie Frank über das neue Berliner Versammlungsfreiheitsgesetz
Dass Rot-Rot-Grün das Versammlungsgesetz modernisieren will und Proteste der Zivilgesellschaft nicht länger als Gefahr, sondern als wichtigen Bestandteil der Demokratie betrachtet, ist begrüßenswert. Leider ist jetzt nur ein halbgarer Kompromiss herausgekommen, der die bestehenden Regelungen verschlimmbessert. Dass das Vermummungsverbot nicht abgeschafft oder das Bedecken von Mund und Nase wenigstens zu einer Ordnungswidrigkeit herabgestuft wird, mutet in Zeiten der Pandemie geradezu lächerlich an. Noch fataler sind allerdings die vagen Formulierungen, die sich eigentlich gegen Neonazis richten, die ihre menschenfeindlichen Positionen richtigerweise nicht mehr überall und an jedem Ort auf die Straße tragen dürfen sollen.
So kann eine Versammlung nicht nur dann aufgelöst werden, wenn in rassistischer oder antisemitischer Weise zum Hass aufgestachelt oder nationalsozialistische Gewalt verherrlicht wird. Auch wenn sie »geeignet oder dazu bestimmt ist, Gewaltbereitschaft zu vermitteln«, und dadurch »einschüchternd wirkt oder in erheblicher Weise gegen das sittliche Empfinden der Bürgerinnen und Bürger und grundlegende soziale oder ethische Anschauungen verstößt«, kann eine Demonstration verboten oder aufgelöst werden. Mit dieser Formulierung wird der Kriminalisierung von antifaschistischem Protest Tür und Tor geöffnet. Aber nur, weil Demonstrationsteilnehmer*innen schwarz gekleidet und vermummt sind oder Pyrotechnik zünden, ist ihr Protest nicht illegitim. Und was ein Verstoß »gegen das sittliche Empfinden« der Bürger*innen ist, ist stets in Veränderung begriffen. Die langhaarigen Studierenden der 68er-Bewegung hätten auf dieser Grundlage wohl damals nicht demonstrieren dürfen.
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Klar ist: Es ist unerträglich, wenn Neonazis am Jahrestag der Pogrome mit Fackeln durch die Straßen laufen und antisemitische Parolen rufen. Dies zu verhindern, kann jedoch nicht um den Preis geschehen, auch antifaschistischen Protest zu verbieten. Eine Demokratie muss aushalten können, dass ihr sittliches Empfinden gestört wird, ansonsten wird jegliche progressive Veränderung unmöglich gemacht.
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