Höchste Zeit

Hand und Fuß, Hirn und Herz – die 4-in-1-Perspektive als konkrete Utopie

  • Frigga Haug
  • Lesedauer: 11 Min.

In allen herrschaftlich organisierten und vor allem in kapitalistischen Gesellschaften ist die Frauenunterdrückung ins Fundament eingelassen, um das Miteinander unterhalb der Ebene von Gesetz und Verfassung zu regeln. Es braucht für die Reproduktion dieser Gesellschaften eine Gruppe von Menschen, denen das Menschsein nicht voll zugestanden ist, die aber gleichwohl das Menschliche an der Gesellschaft freiwillig und ohne weiteres Entgelt tun, einfach weil sie anders auch sich selbst nicht wirklich bejahen und reproduzieren können. Hier setzt meine schon vor Jahren formulierte grundlegende These an, dass Geschlechterverhältnisse Produktionsverhältnisse sind. Daraus entstand das Projekt der 4-in-1-Perspektive, das seitdem weltweit von linken Bewegungen aufgenommen und diskutiert wurde. Die Covid-19-Krise, in der viele sonst für selbstverständlich gehaltene Parameter des Wirtschaftens zumindest zeitweilig außer Kraft gesetzt wurden, bietet die Chance, aus diesem Projekt konkrete Politik abzuleiten.

Ausgehend von der Einsicht, dass Menschen tätige Wesen sind, werden zunächst vier Bereiche nebeneinandergestellt, die im Laufe der Geschichte der Entwicklung der Menschheit auseinanderfielen und verschiedenen Menschengruppen zugeordnet wurden. Da ist der Sektor, den wir Produktion und Reproduktion der Mittel zum Leben nennen; dieser ist in kapitalistischen Gesellschaften in der Form der Lohnarbeit geregelt. Dann der ganze Bereich, der sich um das Leben selbst kümmert, seine Pflege, die Fürsorge, also die Arbeit füreinander, vor allem für diejenigen, die das nicht selber tun können, weil sie zu klein, zu alt, zu krank, behindert sind. Dieser Bereich wurde historisch durchweg den Frauen zugeordnet, ist teilweise in Lohnarbeit überführt und erfreut sich ansonsten der gesellschaftlichen Achtung als Umsonstarbeit in komplizierten Abhängigkeits- und Versorgungsverhältnissen. Dann der Bereich der eigenen Entwicklung, des Lernens, der Entfaltung »einer Welt produktiver Anlagen«, wie Marx das nennt, in dem also ein jeder/eine jede erfährt, dass Menschsein mehr heißt als essen und trinken und dazu in Lohnarbeit die nötigen Mittel zu verdienen. Den tätigen Tag sich so eingeteilt zu denken, stellt unweigerlich die Frage, dass eine solche Einteilung ja eine Gestaltung von Gesellschaft ist, dass also die Politik ebenfalls zur Aufgabe und Zeit eines jeden und einer jeden gehören muss.
Es ist überhaupt nicht neu, diese Bereiche in Augenschein zu nehmen. Neu ist, die Über- und Unterordnung, welche die jeweiligen Bereiche in der Gesellschaft, aber auch im Leben der Einzelnen erfahren, anders anzuordnen. Dies geschieht zunächst theoretisch, indem eine Gleichrangigkeit und also Verallgemeinerung der dort nötigen Tätigkeiten auf alle Gesellschaftsmitglieder Ziel des Modellentwurfs ist. Insofern ist 4-in-1 ein Projekt im Werden, ist Perspektive, die zugleich in den alltäglichen Praxen heute schon lebt. Der Vorschlag, den Ausgangspunkt theoretisch-politischen Denkens bei der gesamtgesellschaftlichen Arbeit bzw. allen Tätigkeiten zu nehmen und eine andere als die gewöhnliche Ordnung und Verteilung vorzuschlagen, hat von vielen gelernt. Von Marx’ Projekt – vornehmlich geschrieben in den Feuerbachthesen –, von der »sinnlich praktischen Tätigkeit« auszugehen und die »Selbstveränderung und das Verändern der Umstände in revolutionärer Tätigkeit« zusammen zu begreifen; von Rosa Luxemburgs »revolutionärer Realpolitik« ebenso wie von Antonio Gramscis Staats- und Hegemonietheorie und immer weiter aus den Bewegungen der Arbeiter und der Frauen in den je aktuellen Kräfteverhältnissen.

Es ist für die einzelnen Menschen je für sich ein wenig schwierig, das vormals Verachtete – etwa die häusliche, die pflegende und fürsorgende Arbeit – als Arbeit zu achten und dies nicht als bloß ideologisches Übermalen zu handhaben. Aber wenn man erst anfängt, darüber nachzudenken, was es bedeutet, dass eine jede und ein jeder sowohl in der Besorgung der gesamtgesellschaftlich notwendigen Lebensmittel engagiert ist – dies in den fachlich außerordentlich ausdifferenzierten Bereichen –, dass aber ebenso ein jeder und eine jede fürsorglich für andere tätig ist und dafür eigene Zeit im Tagesablauf einplant, statt einfach einer Karriere zu folgen. Wenn jeder sich und sein Leben reflektiert und erfährt, welche Menschlichkeit in das eigene Leben einkehrt, sobald auch Zeit und Muße ist, Kunst und lebenslanges Lernen als eigens zu entwickelnde Praxen zu planen und dann noch die Gesellschaftsgestaltung als eigene Aufgabe verantwortlich akzeptiert, wird man erkennen, dass fast die gesamte Ordnung in dieser bisherigen Gesellschaft von Krise und Krieg, von Armut für die meisten und Reichtum für wenige, von Verwahrlosung und Überfluss, von Langeweile und Konsum umgekrempelt werden muss.
Es wird nicht nur unmöglich, mehr als vier Stunden in der Erwerbsarbeit zuzubringen, damit die anderen drei Bereiche in der tätigen Lebenszeit überhaupt wahrgenommen werden können. Man erkennt zugleich, welch restriktiver Arbeitsbegriff Geltung hat, wenn um den Achtstundentag und um »Vollzeiterwerbsarbeit« gekämpft wird auf der einen Seite, und wenn auf der Gegenseite »Arbeitslosigkeit« der Schrecken ganzer Gesellschaften ist, während doch die Verteilung der gesellschaftlichen Gesamttätigkeiten auf alle ohne weitere Katastrophen möglich wäre. Man erkennt aber auch, dass für eine solche andere Ordnung ein Plan gebraucht wird, um die Verteilung der Tätigkeiten auch nach den menschlichen Fähigkeiten und Bedürfnissen zu regeln und findet sich unverhofft vor dem Tabu, über Planwirtschaften neu nachzudenken. Es braucht vor allem auch die Einwilligung aller, sich in eine solche von allen getragene Gesellschaft zu begeben, wenigstens probeweise. Dies ist ein langwährendes Lernprojekt, das wir eine »konkrete Utopie« nennen können.

Die 4-in-1-Perspektive richtet sich an alle Menschen, den Streit um Arbeit, ob sie Lohnarbeit, Hausarbeit, produktiv oder nicht sei, zu beenden, indem sie von der gesamtgesellschaftlichen Arbeit ausgehen, nicht bloß von der Lohnarbeit. Indem sie für alle Arbeiten eine andere Ordnung vorschlägt, eröffnet sie die Möglichkeit, dass an alle Tätigkeitsbereiche verantwortlich gedacht und die Verfestigung einiger mit historischen Individualitätsformen aufgesprengt wird. Beim notwendigen Umbau der Gesellschaft kommt den Frauen dabei unerwartet statt einer helfenden eine Schlüsselrolle zu. Sie haben ein genuines Interesse, dass etwa die Sorge für diejenigen, die umsorgt werden müssen, auf alle verteilt wird und von einer Geschlechtsspezifik in allgemeine Verantwortung übergeht und keineswegs vergessen wird. Von der Umverteilung aller Arbeiten haben sie als Menschen mehr zu gewinnen, als sie verlieren mit dem verlorenen Anspruch aufs Versorgtwerden im unselbstständigen Leben.
Alle sind in allen Bereichen tätig. Mit dieser Perspektive haben wir einen Spannungsrahmen, der es ermöglicht, die Fragen und Analysen der Kritik der politischen Ökonomie zu verbinden mit den Fragen des Individuums und seiner Lebensführung. Zugleich greifen wir ein in den praktisch-politischen Streit um gesellschaftliche und individuelle Relevanz der einzelnen Arbeitsarten, gewöhnlich betrachtet als häusliche und »Reproduktionsarbeit« (der Begriff ist ungut und missverständlich, weil er zugleich für die Wiederherstellung des Gesamtsystems, also die kapitalistische Reproduktion, gebraucht wird, als auch für die der Individuen) auf der einen Seite, Erwerbsarbeit auf der anderen. Deren Grenzen sind ohnehin ungesichert, auch das zeigt die aktuelle Krise beispielsweise bei den vielen schon in Lohnarbeit überführten Pflegearbeiten. Verbunden sind sie durch fehlende gesellschaftliche Anerkennung, die sich in der Bezahlung – gering oder gar nicht – ausdrückt, und selbst umkämpft ist. Wir enthierarchisieren sie und, indem wir sie auf gleicher Ebene halten und gleichermaßen besetzen, müssen wir selbst keine bewertende Entscheidung treffen. Die Frage löst sich als Streitfrage auf durch Verallgemeinerung.

So fungiert die 4-in-1-Perspektive als eine Art politischer Kompass, der vom Standpunkt der gesellschaftlichen Gesamtarbeit die Einzelnen in die Pflicht nimmt, auch ihre Leben so einzuteilen, dass sie in jedem der Bereiche tätig sind und sich entsprechend qualifizieren oder bescheiden und solcherart das Leben verträglich genießen. Kurz: Die psychische Seite des Projekts verlangt eine bewusste Lebensführung. Gesellschaftlich ist sie mit kapitalistischen Produktionsverhältnissen ganz unverträglich, weil sie zum Resultat hat: Plan anstelle von Markt, Sorge für alle anstatt Profit und Übervorteilung, allseitige Entfaltung und Ausbildung statt an Wirtschaft orientierter enger Qualifikation und natürlich Politik von unten statt der Kämpfe um die Stellvertreter im Politischen. Das gute Leben erschöpft sich dann nicht im Konsum.
Als Politik von unten und radikale Demokratie ist die 4-in-1-Perspektive mit den alten Individuen aus den alten Verhältnissen schwer zu machen, weil diese sich selbst herausgebildet haben, um in Verhältnissen von Konkurrenz, Wettbewerb, Übervorteilung und Neid zu überleben und voranzukommen als Ellenbogenmenschen. So ist sie ein Lernprojekt in Wechselwirkung. Unter den Übergangsverhältnissen werden die bewussten Frauen sich leichter der Zumutung stellen können, in allen Bereichen zu leben. Soweit ihnen die Sorge für andere unter Selbstaufopferung schon lebenslang oblag, lässt sich solche Verantwortung für sie einsichtig auf beide Geschlechter übertragen. Dies ist zugleich eine neue Vorstellung von Gerechtigkeit.

Wenn man die vier Bereiche Erwerbsarbeit, Reproduktionsarbeit, politische Arbeit und individuelle Entwicklung wie eine Arbeitsteilung handhabt, bei der einzelne Gruppen, Parteien oder gar Strömungen in den Parteien oder zuständige Ressorts je einen isolierten Bereich als ihr Markenzeichen besetzen, büßt die 4-in-1-Perspektive ihren revolutionären Impetus ein. Das gilt ohnehin für die vorhergehende Trennung, in der die einen klassenbewusst eine Arbeiterpolitik betreiben, die für Erwerbstätige greifen kann, während die anderen eine Perspektive aus der Vergangenheit hervorsuchen, eine Utopie für Mütter nach rückwärts, die uns Frauen lebendigen Leibes ans Kreuz der Geschichte nagelt, wie Bloch dies ausdrückt. Zeitgemäß auf die Entwicklung einer Elite setzen die Dritten. Partizipative Politikmodelle in unwesentlichen Bereichen erfreuen sich zusehends großer Beliebtheit: etwa das Fernsehen zu einer Modellanstalt von Zuschauerwünschen machen, die Belegschaft an der Gestaltung des Weihnachtsfestes beteiligen, die Bevölkerung an der Mülltrennung.
Für sich allein zum Fokus von Politik gemacht, kann jeder Bereich geradezu reaktionär werden. Die politische Kunst und so auch das Revolutionäre liegen in der Verknüpfung:. Alle sollten zusammen verfolgt werden, was eine Politik und zugleich eine Lebensgestaltung anstrebt, die umfassend wäre, lebendig, sinnvoll, eingreifend. Das, was in unserer Gesellschaft und unserer Erfahrung als Gegensatz auftritt, zum Beispiel Anstrengung und Muße, wird in diesem Projekt aus dem bloßen Gegeneinander auf eine produktive Stufe gehoben, mit der Perspektive, das Menschliche am Menschen zu entwickeln, also, um mit Marx zu sprechen, auch das Menschliche selbst als Prozess im Werden, als Projekt zu fassen.
Für praktische Politik muss dies noch einmal durchgearbeitet werden, um Forderungen in Bezug auf die Bedingungen zu formulieren, unter denen die Fähigkeiten und Fertigkeiten vermittelt werden können, die man zum Leben in den vier Bereichen braucht. Das wäre zum Beispiel einmal eine allgemeine Fertigkeit in Handarbeit oder Vorstufe zu Facharbeit, früher polytechnische Erziehung genannt, und ebenso eine universelle Ausbildung in der Geschichte der Kopfarbeit, kurz ein Forderungsensemble, das Bildungsinstitutionen umkrempelt. Dann eine allgemeine Ausbildung in Haushalt und Familie, einschließlich der Pflege bei Krankheit, d.h. auch ein allgemeines Wissen über den Körper und seine Gesundhaltung. Ferner könnten – ähnlich wie früher in der DDR – mit der Hochschulreife eine Facharbeiterbefähigung und der Führerschein erworben sein. Zur notwendigen Ausstattung gehört eine Ausbildung in künstlerischen Fähigkeiten, je nach Veranlagung und Selbstbestimmung, und die Frage der Naturbewahrung und Erhaltung, kurz eine Einführung in Ökologie. Eine Art »Lebensschein« ist auszuarbeiten, so dass sich die individuellen Energien unter den Bedingungen oder unter einer Zeitverfügung von 4-in-1 anders verteilen können. Wofür man also sich engagiert und sein Leben einsetzt, dass in der Perspektive jeder nach seinen Bedürfnissen lebt, wie Marx in der Kritik des Gothaer Programms oder im »Kommunistischen Manifest« skizziert, findet hier seinen Anker.

Die Verstrickung im Hier und Jetzt macht das Projekt zugleich unmittelbar praktisch und läuft jederzeit Gefahr, sektiererisch und reaktionär zu sein. Was je neu erarbeitet werden muss, ist das Studium der Kräfteverhältnisse und die aktuell immer neue Artikulation für die treibenden Widersprüche, ist also auch die Bedeutung des historischen Moments. Es braucht für eine Politik in der 4-in-1-Perspektive eine Gruppe von geschulten Intellektuellen, die diese Politik von unten beständig forschend begründen und weiter entwickeln unter Einschluss so vieler wie möglich.

Die 4-in-1-Perspektive beinhaltet auch die Zumutung, die Verhaltensweisen, die Lebensführung, sich selbst anzumessen und die unweigerlich damit verbundene Aufgabe und Verantwortung, sich für die Veränderung der Bedingungen einzusetzen, die das Leben in der 4-in-1-Perspektive überhaupt erst möglich machen. Dies ist das Faszinierende und zugleich Revolutionäre an ihr, dass sie den Einzelnen die Möglichkeit eröffnet, sich diese Lebensführung für sich vorzustellen und mit der Realisierung sogleich zu beginnen. Also konkrete Utopie in einer Zeit, da die Preisgabe von Hoffnung zu den wohlfeilen Waren des neoliberalen Projekts gehört. Es ist zugleich die Begegnung mit dem Verlust, dass man der Entfaltung vieler Möglichkeiten im Künstlerischen, im Lernen, im eigenen Leben zu wenig Raum gegeben hat, und die Einlösung des Versuchs, dies noch, soweit es geht, zu ändern, und schließlich auch die Einsicht, dass fürsorgendes Handeln nicht bloßes Abdienen von Pflegearbeit ist, kein Care-Problem, sondern sich auf die Freundlichkeit in der Welt erstreckt bis hin zu individueller Liebe und Freundschaft.

Frigga Haug ist Vorsitzende des Berliner Instituts für kritische Theorie, Mitherausgeberin der Zeitschrift »Das Argument« sowie des Historisch-Kritischen Wörterbuchs des Marxismus. Ihr Konzept entwickelt sie in dem Band Die Vier-in-einem-Perspektive. Politik von Frauen für eine neue Linke, 3. Aufl. Argument Verlag Hamburg 2011.

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