Der wunde Punkt ist die eigene Familie

Bernd Cailloux erzählt in »Der amerikanische Sohn« sein Leben weiter

  • Matthias Reichelt
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Literatur von Bernd Cailloux, Jahrgang 1945, ist zu einem beachtlichen Teil stärker autobiografisch geerdet als bei anderen Autoren, so fiktiv werden manche Begebenheiten verdichtet, entschleunigt und aus subjektiver Position erzählt. Daraus macht er auch kein Geheimnis. Nun hat er seinen Lebensroman nach »Das Geschäftsjahr 1968/89« (2005) und »Gutgeschriebene Verluste« (2012) mit dem dritten Teil »Der Amerikanische Sohn« vorerst beendet.

Das Zentrum dieser Trilogie ist Cailloux’ Leben vor seiner schriftstellerischen Karriere: die letzten drei Jahrzehnte des vorigen Jahrhunderts, die bei ihm geprägt waren von einem drogengesättigten und hedonistischen Lebensstil. Bernd Cailloux und sein Freund, der in den Romanen Andreas Bündinger heißt, hatten Ende der 60er Jahre die Idee, Konzerte und Discos mit Stroboskopanlagen zu illuminieren und zu einer visuellen und körperlichen Erfahrung zu machen.

Entstehen und Scheitern dieses florierenden Unternehmens »The Leisure Society«, das gleich zu Anfang ein Frank-Zappa-Konzert in Essen mit einer Lichtshow bestückte und beglückte, wird in den beiden vorherigen Bänden geschildert. Bündinger, der Partner, hatte die Firma kurzerhand auf den eigenen Namen ins Handelsregister eintragen lassen und sie sich somit unter den Nagel gerissen. Verständlicherweise führte das zu langer Funkstille, denn »keiner von uns hatte es bedauert, den anderen aus den Augen verloren zu haben und die einstige Freundschaft zur bloßen Erinnerung an eine ferne Vergangenheit verkommen zu lassen«, so beginnt der neue Roman. Erzählt wird eine Wiederbegegnung in einem Hotel in Berlin-Mitte.

Begegnungen mit früheren Freunden können so tückisch sein wie Klassentreffen. Einerseits befriedigen sie die eigene Neugier und andererseits konfrontieren sie uns mit unangenehmen und längst verdrängten Geschichten. Cailloux gelingt es mühelos, die innere Stimmung, die Erwartungen und Befürchtungen mit wenigen Worten zu modellieren. Er klopft die Erinnerung ab, spürt dem Disput, der Entfremdung zwischen den Freunden und Geschäftspartnern nach und rekapituliert die kurze Wiederbegegnung bei einem Arbeitsgerichtsprozess, in dem der Erzähler als Zeuge auftreten musste.

Bündinger kommt zum Treffen in Mitte wie angekündigt in Begleitung seiner neuen Lebensgefährtin. Nach dem behutsamen Abtasten und Small Talk ist es diese Lebensgefährtin, die mit der harmlosen Frage, ob er denn Kinder habe, den wunden Punkt des Erzählers trifft. Tatsächlich weiß er schon lange, dass in den USA ein erwachsener Sohn lebt, den er noch nie gesehen hat. Die Mutter hatte ihm vor ihrer Abreise aus Hamburg in den 80er Jahren eine Abtreibung vorgetäuscht, um schließlich das von ihr gewollte Kind alleine in Jamaika aufzuziehen. Doch dieser Plan erwies sich mittelfristig als illusionär, sodass sie mit dem Sohn in die USA zog.

Caillox nutzt nun die Einladung für ein Stipendium in New York 2015, um Nachforschungen in eigener Sache anzustellen. Meisterhaft erzählt Cailloux in »Der amerikanische Sohn« sein Leben weiter, diesmal über Kunst, Geschäft und New York. Oft leichthändig verwebt Cailloux die Angst vor seiner Begegnung mit dem unbekannten Sohn mit hellsichtigen und lakonisch-kritischen Beobachtungen im durch und durch gentrifizierten New York. Er trifft dort auf alte Freunde - einer ist im Kunstbusiness einer angesagten Galerie tätig. Für Cailloux eine Gelegenheit, über seine Kunstaffinität und die unangenehmen Auswüchse des kapitalisierten Kunstbetriebs nachzudenken und sich auch an seine einstige Freundschaft mit Sigmar Polke zu erinnern. In charmant-lässiger Weise lässt er frühere Erfahrungen, die er in New York gemacht hat, einfließen. 1972 hatte er für einen längeren Aufenthalt in New York im legendären Chelsea-Hotel eingecheckt und mit dem Schreiben begonnen, was er anhand alter Tagebucheintragungen rekonstruiert.

Ohne Larmoyanz erzählt der Autor auch von den Mühen des gealterten Körpers und mit lakonischem Witz über die Schwierigkeiten, den häufigen Harndrang in New York ohne öffentliche Toiletten zu beherrschen. Bernd Cailloux gestaltet die Suche nach dem Sohn zu einer kritischen Zeitreise voller kluger Beobachtungen mit ironischer Leichtigkeit und manchmal auch mit traurigen Tönen über die Verluste des Lebens und dessen Endlichkeit.

Bernd Cailloux: Der Amerikanische Sohn. Suhrkamp, 223 S., geb., 22 €.

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