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»Ich mache mir große Sorgen um die EU«

Ulrike Guérot über die Union nach Corona, die Europäische Republik und die Mitsprache der Bürger*innen

In Ihrem neuen Buch werfen Sie die Frage auf, wie das Europa der Nach-Corona-Zeit aussehen wird und ob es ein »back to normal« geben wird. Wird es das geben?

Das glaube ich nicht. Denn die Frage ist doch: Was ist das Normale? Seit 1992 verfolgen wir, auch vertraglich vereinbart, das Ziel einer Ever Closer Union, an dem wir aber nie angekommen sind. Wäre das Normale also, dass wir uns an die damaligen Utopien erinnern? Oder wäre es »normal«, auf den Ist-Zustand der Vor-Corona-Zeit zurückgeworfen zu werden? Meine große Sorge ist jedoch, dass wir nach der Pandemie noch vor 1992 zurückfallen, sagen wir mal auf den Stand von 1950.

Ulrike Guérot

Die Professorin leitet das Department für Europapolitik und Demokratieforschung an der Donau-Universität Krems. Sie hat außerdem das European Democracy Lab gegründet, ein Thinktank, der sich mit der Zukunft europäischer Demokratie befasst. Im Rahmen des European Balcony Project im November 2018 verlasen europaweit Künstler*innen ein von Guérot und dem österreichischen Schriftsteller Robert Menasse verfasstes Manifest zur Gründung einer Europäischen Republik. Guérot hat zahlreiche Bücher zur europäischen Integration veröffentlicht, das jüngste unter dem Titel »Nichts wird so bleiben, wie es war? Europa nach der Krise«.

Ein Grund dafür dürfte der Rückzug von EU-Staaten ins Nationale sein. Vor zwei Jahren haben Sie gegenüber dem Europaportal die-zukunft.eu bezweifelt, dass es eine Renationalisierung in Europa gibt. Bleiben Sie dabei?

Das ist schwer zu beantworten. Eine Krise ist immer die Regression auf den letzten Status quo ante, der funktioniert hat. Das heißt, die Corona-Krise hat die Union zurückgeworfen, nicht grundsätzlich infrage gestellt. Corona hat die Schwächen der EU deutlicher denn je offenbart. Insbesondere jene, dass wir die politische Union nicht abgeschlossen haben, dass die EU noch nicht souverän ist, dass Frau von der Leyen noch nicht handeln konnte, wie sie eigentlich gemusst hätte. Daher konnten die Nationalstaaten rein grätschen, beispielsweise mit Grenzschließungen - die übrigens nur für Bürger*innen galten und nicht für Güter oder Geld. Das ist das - bedauerliche - Level der Regression. Das Überraschende daran ist aber, dass die Bürger*innen Europas dies beklagt haben. Egal, ob sie nach Slowenien, Tschechien, Niederösterreich, Elsass, Deutschland gucken, das, was die Staats- und Regierungschefs da gemacht haben als Schritt der Renationalisierung, wurde überall von den Bürger*innen lautstark beklagt. Das war die Good News in diesem Prozess.

Also doch Renationalisierung, wenn auch in kleiner Dosis?

Das werden wir sehen, die Metatrends sind andere. Beispielsweise wird gerade die Digitalisierung beschleunigt, und damit letztlich die Stadt-Land-Furche vertieft. Welche sozioökonomischen Reflexe dies wiederum hervorbringt, das wissen wir noch nicht. Aber auch in der Pandemie ist Norditalien nicht Süditalien, ist der Flächenstaat Schleswig-Holstein nicht Berlin, ist die Reaktion in Paris nicht die im Ardèche usw. Corona verstärkt sozioökonomische und soziogeografische Strukturen. Und die haben mit Nationalstaatlichkeit eher wenig zu tun.

Solange letztlich der Rat, also das Gremium der Regierungen, bestimmt, wie viel Gemeinschaft in der EU steckt, wird es mit der Ever Closer Union nichts. Bei solchen Fragen wie Migration, Klimaschutz oder Finanzkrise hat der Rat meist Schritte auf europäischer Ebene gebremst oder gestoppt. Kann das »System EU« auf die Herausforderungen, die vor Europa und global stehen, überhaupt noch reagieren?

Ich mache mir große Sorgen um die EU. Bisher, in den 70 Jahren Erzählgeschichte der europäischen Integration, war es immer die Kraft der EU, aus Krisen, in denen ein Element der Solidarität gefehlt hat, eine Chance zu machen und die Vergemeinschaftung voranzutreiben. Wir haben die Währungsschwankungen in den 1970er Jahren erlebt, da haben wir gesagt, das wollen wir nicht mehr, jetzt machen wir den Euro. Wir haben den europäischen Markt gehabt, weil wir gesehen haben, dass man ohne einen Markt nicht zusammenkommt, weil man dann ständig konkurrieren muss über das Reinheitsgebot des deutschen Bieres oder über Eiernudeln oder Nicht-Eiernudeln aus Italien. Das heißt, die Antwort auf fehlende Solidarität war immer mehr Gemeinschaft. Das ist mit Corona außer Kraft gesetzt. Heute gilt es als löblich zu sagen, wir tun zwar etwas, aber strukturell darf sich nichts ändern. Aber das Lebenselixier der EU war immer die strukturelle Änderung! Von nationalen Märkten zum Binnenmarkt, von nationalen Währungen zur gemeinsamen Währung, von nationalen Grenzen zum Schengenraum, von nationalen Universitäten zum Erasmus-Raum. Wenn wir das jetzt aus dem Blickfeld nehmen, dann gibt es keinen Schub mehr an Vergemeinschaftung, sondern einen Schub an Renationalisierung. Eine solche Regression haben wir übrigens auch schon in der Bankenkrise und der Geflüchteten-Krise beobachtet. Das European Rescue Package ist der Versuch, jetzt gemeinsame Anleihen aufzunehmen, aber vom Volumen her nicht ganz überzeugend und ohnehin ist es gerade in Gefahr, durch Vetopositionen verhindert zu werden.

Sie plädieren als einen Ausweg aus diesem Dilemma für die Gründung einer Europäischen Republik. Was wäre in einer solchen Europäischen Republik anders als in der EU des heutigen Zustandes?

In einer Europäischen Republik wären alle Bürgerinnen und Bürger gleich vor dem Recht. Das ist eigentlich schon alles. Es gälte dann der allgemeine politische Gleichheitsgrundsatz, der zum Beispiel auch in der Bundesrepublik gilt, nämlich, dass von Anklam bis zum Bodensee alle Bürgerinnen und Bürger dieser Bundesrepublik gleich wären vor dem Gesetz, und zwar in allen ihren bürgerlichen Belangen wie Versammlungsfreiheit, in ihren politischen Belangen wie Wahlrecht, in ihren sozialen Rechten. Das heißt, sie sind gleich vor dem Recht, sie bekommen vom Bodensee bis Anklam das gleiche Arbeitslosengeld, das gleiche Hartz IV. In einer Europäischen Republik würde dieser Gleichheitsgrundsatz auf ganz Europa ausgedehnt, auf die europäischen Bürger*innen in ihrer Gesamtheit, sprich die 500 Millionen europäischen Bürger*innen, wie sie heute organisiert sind in der Europäischen Union. Und das würde bedeuten, dass wir eine Verschiebung haben, einen Paradigmenwechsel, hin von Union der Staaten zu einer Union der Bürger*innen, wie auch im Vertrag von Maastricht 1992 angelegt. Der hat eine Zwei-Säulen-Struktur: eine Säule Union der Staaten, eine Säule Union der Bürger*innen. In den letzten Jahren der Integration hatten wir allerdings eine massive Stärkung der Union der Staaten, das heißt, immer nur Staaten haben im Rat etwas entschieden, genauer: blockiert. In einer Europäischen Republik würden europäische Bürger*innen nach dem Prinzip der Wahlrechtsgleichheit - one person - one vote - ein neu-designtes Parlament wählen, das dann andere Mehrheiten generiert und Dinge parlamentarisch durchbringen könnte, die heute im Rat scheitern.

Das klingt sehr abstrakt.

Ich mache es mal ganz konkret an einem Beispiel: Wir haben empirische Daten, dass ungefähr zwei Drittel der europäischen Bürger*innen, wenn sie denn nicht aggregiert befragt würden, für eine europäische Arbeitslosenversicherung wären. Wir sehen aber, dass, solange wir in einer Union der Staaten sind und die Staaten das verhandeln und nicht die Bürger*innen in einem parlamentarischen System, die Vorschläge für eine europäische Arbeitslosenrückversicherung boykottiert wurden und werden. Dabei ist die Frage, ob man für oder gegen eine europäische Arbeitslosenversicherung ist, eine politische keine nationale, also und nicht so sehr davon abhängig, ob man Pole, Portugiese oder Finne ist. In einer Europäischen Republik wäre das nicht möglich.

Ursula von der Leyen hatte vor ihrem Amtsantritt als EU-Kommissionspräsidentin eine Konferenz zur Zukunft der EU angekündigt, an der sowohl die Zivilgesellschaft als auch Abgesandte des Europaparlaments, der nationalen Parlamente und der nationalstaatlichen Strukturen beteiligt werden sollen. Dabei soll es darum gehen, wie die EU in einigen Jahren aussehen müsste und welche Wege es dorthin gibt. Wäre dies ein Schritt Richtung Europa der Bürgerinnen und Bürger?

Ich bin ja indirekt Teilnehmerin dieser Konferenz, weil das European Democracy Lab wiederum im Netzwerk Citizens Take Over Europe aktiv ist, das sehr engagiert Vorschläge für die Citizens’-Konferenz erarbeitet. Auch bei Anhörungen im Europaparlament und bei verschiedenen Veranstaltungen zur Zukunftskonferenz war ich beteiligt. Aber ich bin dabei trotzdem etwas bei Gramsci: Schaue ich auf die Realität, dann hadere ich; schaue ich auf meinen Aktivismus, dann beruhige ich mich. So ähnlich würde ich das sehen. Aber ganz konkret: Natürlich gibt es methodisch jede Menge Probleme, wer wird eigentlich eingeladen, werden Reisekosten bezahlt, gibt es auch transnationale Meetings, wie ist es mit der Verdolmetschung, und, und, und. Vor allen Dingen stört mich aber diese Reich-Arm-Strukturierung. Ich frage mich, ob wir mit solchen Konferenzen jene Klassen erreichen, die längst aus den partizipativen Prozessen herausgefallen sind. Die Papiere, die ich sehe, stammen jedenfalls im Wesentlichen aus jenem Cluster, das ohnehin schon an dem Prozess dran war, also bekannten Stiftungen usw. Damit gibt es aber einen asymmetrischen Systemzugang von Playern, die eh schon in der Brüsseleler Blase sind – ich selbst habe Verwandte, die noch nie von dieser Konferenz gehört haben, wahrscheinlich nie hören werden. Da sehe ich ein ernsthaftes Problem.

Die Frage der Weiterentwicklung der EU wurde in der Vergangenheit in Regierungskonferenzen beraten, unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Da wäre die Zukunftskonferenz doch zumindest ein kleiner Fortschritt.

Sicher. Ich finde es sehr gut, dass mit der Zukunftskonferenz Interesse an der Entwicklung der Europäischen Union geweckt wird. Aber ich befürchte einerseits, dass die Rechten im Europaparlament die Frage stellen werden: Wieso befragt Frau von der Leyen die Bevölkerung oder die Europäer*innen, wo doch das Europäische Parlament der gewählte Repräsentant der Bevölkerung ist? Da sind wir wieder bei der Frage des Souveräns - wer ist denn Repräsentant der Europäer*innen? Sind das die per Losverfahren ausgewählten Teilnehmer*innen der Konferenz, oder sind es diejenigen, die wir in den Europawahlen ins Parlament gesetzt haben? Und zum anderen kommen wir nicht an der zentralen politiktheoretischen Frage vorbei, was in den Schlussfolgerungen steht, die wir dann in anderthalb Jahren haben werden. Nichts wäre verheerender für die europäische Demokratie, als wenn die Ergebnisse dieser Bürger*innenbefragung einfach beiseite gewischt würden.

Wenn es weitreichende strukturelle oder strategische Änderungen geben sollte, den Ruf nach Reformierung der Europäischen Verträge gar, wird sich wiederum der Rat querstellen. Da beißt sich die Katze in den Schwanz.

Der Rat hatte auf seiner Beratung im Januar 2020 die Konferenz zur Zukunft der Europäischen Union als letzten Punkt auf der Tagesordnung. Und zwar unter »Sonstiges«. Und das spricht für das, was Sie sagen. Dafür spricht übrigens auch, dass es interne Umfragen gibt unter den sogenannten Brussels Folks, also den Leuten, die in Ministerien oder in der Kommission sitzen, von denen 62 Prozent nicht an einen konstruktiven Ausgang der Zukunftskonferenz glauben. Aber wenn wir sagen, es wäre schon alles entschieden, dann können wir natürlich einpacken. Dann ist alles, was wir irgendwann mal mit Bürger*innen-Union, politischer Union, Demokratisierung Europas, Parlamentarisierung Europas verbunden haben, im Karton.

Wir sehen doch, dass die Bürger*innen gerne sehr viel mehr von Europa hätten. Die Arbeitslosenversicherung war nur ein Beispiel, ich könnte auch das europäische Grundeinkommen nennen oder die europäische Finanztransaktionssteuer, was auch immer. Jedenfalls mehr als »nur« Klimaziele. Der Punkt aber ist, wenn das dann aber am Ende aufgeschrieben und wieder vergessen wird, weil sich der Rat darum überhaupt nicht schert, dann haben wir jedes Vertrauen der Bürger*innen in Europa, in die EU verspielt.
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