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Die blockierte Chefin

Von der Leyen führt ein Jahr die EU-Kommission

  • Aert van Riel
  • Lesedauer: 5 Min.

Die 27 Mitgliedstaaten machen in der EU in erster Linie nationale und erst in zweiter Linie europäische Politik. Das hat auch die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen schon kurz nach ihrem Amtsantritt vor genau einem Jahr erlebt. Sie musste sich zunächst um das Dauerthema Brexit kümmern. Die Briten verließen Ende Januar die EU, seitdem wird über das künftige Verhältnis des Vereinigten Königreichs zu dem Staatenverbund gestritten. Dann kam die Corona-Pandemie. Regierungen schlossen ihre Grenzen und verwehrten sich gegenseitig Schutzkleidung. Im März halfen stattdessen Ärzte und Fachleute aus China, Russland und Kuba dem schwer von der Coronakrise getroffenen Italien.

So konnte es aus Sicht der EU-Kommission nicht weitergehen. Um wenigstens in der Wirtschaftskrise, die mit der Pandemie einherging, europäische Solidarität zu demonstrieren, verhandelte man über einen Wiederaufbaufonds. Frankreich und Deutschland gaben in den Gesprächen oft den Ton an. Von der Leyen lieferte immerhin das entsprechende Modell: Eine Garantie der EU-Staaten im Haushalt soll es der Kommission erlauben, erstmals im großen Stil Schulden zu machen und das Geld zu verteilen.

Die Verhandlungen wurden erfolgreich abgeschlossen, aber inzwischen blockieren die rechtsnationalen Regierungen in Polen und Ungarn den Fonds ebenso wie den EU-Haushalt. Von der Leyen steckt in einer Zwickmühle. Denn sie hatte es den Abgeordneten der Regierungsparteien PiS aus Polen und Fidesz aus Ungarn zu verdanken, dass sie überhaupt vom EU-Parlament zur Kommissionsvorsitzenden gewählt wurde. Deswegen hatte sie es lange vermieden, hart gegen die Regierungen dieser Länder vorzugehen. Andererseits geht es bei dem Streit um die Frage der Rechtsstaatlichkeit in den beiden östlichen EU-Ländern. Diesbezüglich liegt dort tatsächlich einiges im Argen und die Kommission will Ungarn und Polen disziplinieren.

Diese Krisen und Konflikte überdecken, was von der Leyen in ihrer bisherigen Amtszeit erreicht und noch vor hat. Im März legte die EU-Kommission das erste gemeinsame Klimagesetz der Union vor. Sie will ab 2050 klimaneutral werden. Der Treibhausgasausstoß würde demnach unterm Strich innerhalb von 30 Jahren auf null sinken. Wenn sich die Staaten nicht an die Empfehlungen der Kommission halten und zu stark von den Klimazielen abweichen, könnte das zum Vertragsverletzungsverfahren führen. »Mit dem Green Deal hat von der Leyen die EU-Klimapolitik spürbar vorangebracht«, sagte dazu der Grünen-Europapolitiker Sven Giegold. Allerdings gibt es in der Europäischen Union keine einheitliche Linie. Giegold monierte, dass die EU-Agrarreform dem Klimaschutz zuwiderlaufe. »Die Subventionspolitik zugunsten der riesigen Agrarkonzerne - auf Kosten der Umwelt, des Tierwohls und der kleinen und mittelständischen Höfe - geht weiter.«

Kritisch wird von vielen Grünen und Linken auch die Migrationspolitik der Kommission bewertet. Im September legte von der Leyen den Migrations- und Asylpakt vor, über den seitdem weiter beraten wird. Dieser läuft darauf hinaus, dass schneller über Menschen entschieden werden soll, die nach Europa flüchten. Das soll dazu führen, dass zahlreiche Schutzsuchende auch schneller abgeschoben werden können - möglichst schon an den Außengrenzen der Europäischen Union. Rechte Politiker waren entzückt über den Vorstoß der Kommission. Die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl sprach hingegen von einem Zwei-Klassen-Asylsystem. Die einen würden ein Schnellverfahren an der Grenze bekommen, die anderen ein reguläres Asylverfahren. Nach einer Gesundheits- und Sicherheitsprüfung werde nämlich primär nach dem Herkunftsland entschieden, welches Verfahren für die Schutzsuchenden folgt.

Von der Leyen und ihre Kommission treiben auch die Militarisierung der europäischen Politik voran. Die CDU-Politikerin und frühere Bundesverteidigungsministerin hatte die Gründung einer »geopolitischen Kommission« angekündigt. Sie will, dass die Europäische Union mit einer stärkeren, einheitlichen Stimme in der Weltpolitik spricht. Die Kommissionspräsidentin strebt keine EU-Armee an. Sie hat in der Vergangenheit stattdessen den Begriff »Armee der Europäer« benutzt. Diese solle nicht in Konkurrenz zur Nato stehen. Von der Leyen hat sich für eine enge Kooperation bei Rüstung und Ausrüstung ausgesprochen und will die Streitkräfte in Europa und ihre Einsätze besser verzahnen.

Entsprechende Schritte sind bereits eingeleitet worden. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte soll die EU mit dem neuen Mehrjährigen Finanzrahmen einen über mehrere Töpfe verteilten Militärhaushalt erhalten. Nach Angaben der Linke-Europaabgeordneten Özlem Alev Demirel fächern sich die Militärbudgets wie folgt auf: Für die Erforschung und Entwicklung von Rüstungsgütern soll ein »Europäischer Verteidigungsfonds« mit einem Umfang von 7,014 Milliarden Euro eingerichtet werden. Für die »Militärische Mobilität«, die vor allem die schnelle Verbringung von Truppen und Gerät an die russische Grenze »optimieren« soll, sind 1,5 Milliarden Euro vorgesehen. Außerdem sind für die militärisch wichtigen EU-Weltraumprogramme (vor allem Galileo und Copernicus) 13,202 Milliarden Euro eingestellt. Die Staats- und Regierungschefs hatten sich im Sommer auf ein als »Europäische Friedensfazilität« benanntes Budget im Umfang von fünf Milliarden Euro geeinigt. »Es ist zwar nicht offizieller Teil des EU-Haushaltes, soll aber nicht zuletzt künftige EU-Militäreinsätze finanzieren«, erklärte Demirel.

Ihr Kollege und Fraktionschef Martin Schirdewan hatte kürzlich auch die mangelhafte Sozialpolitik kritisiert. Er vermisse einen armutsfesten europäischen Mindestlohn und eine gerechte Besteuerung von Unternehmen. Von der Leyen fahre »im Schneckentempo nur auf Sicht«. Zwar will die EU-Kommission die Mitgliedstaaten verpflichten, Mindestlöhne entweder gesetzlich oder per Vereinbarung durch die Tarifvertragsparteien durchzusetzen, aber sie legt sich nicht auf Beträge in Euro und Cent fest.

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