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Ein neues Akkumulationsmodell
Ein Sammelband erklärt, wie ein Virus dazu benutzt wird, die Gesellschaft zu verändern
Zum »Wort des Jahres« 2020 ist diese Woche von der Gesellschaft für deutsche Sprache »Corona-Pandemie« gekürt worden, auf Platz zwei landete »Lockdown«, was man eher als einen Kandidaten für das »Unwort des Jahres« vermutet hätte. Denn dieser Begriff ist ein Beispiel dafür, wie gesellschaftliche Zustände mit Schlagworten verschleiert werden, was anscheinend besonders gut mit Anglizismen gelingt. Die deutschen Wörter Zwangsschließung, Kontakt-, Ausgangs- und Berufsausübungsverbote klingen schrecklich und würden bei täglicher Verwendung die Bevölkerung noch mehr verunsichern. Da bedient man sich doch lieber nicht allzu offensichtlicher Begrifflichkeiten.
Schließlich haben wir es auch mit einer noch nie dagewesenen Situation zu tun: Ein Virus tötet Hunderttausende, bis jetzt sind weltweit 1,5 Millionen Menschen daran gestorben. Und die Regierungen diverser Staaten, darunter das Bundeskabinett unter Angela Merkel, müssen - leider, leider - Grundrechte außer Kraft setzen und tief in den Alltag der Bürger eingreifende Regelungen beschließen.
Das alles seien herrschaftsdienliche Mythen, ist in einem von den Wiener Autoren und Verlegern Hannes Hofbauer und Stefan Kraft herausgegebenen Sammelband zu lesen. Es soll gezeigt werden, wie ein »Virus dazu benutzt wird, die Gesellschaft zu verändern« (Untertitel). Einige hier zu Wort kommende Wissenschaftler, Politiker und Journalisten bestreiten, dass die Lage an der deutschen und österreichischen Gesundheitsfront derart prekär sei, dass die verschiedenen Grundrechtseinschränkungen im Lauf dieses Jahres gerechtfertigt wären. Andere halten sich im Urteil zurück, bleiben seltsamerweise geradezu gleichgültig.
Dabei liefert vor allem Andreas Sönnichsen, Medizinprofessor an der Universität Wien und Vorsitzender des Deutschen Netzwerks Evidenzbasierter Medizin, in seinem Text mit dem vielsagenden Titel: »Covid-19: Wo ist die Evidenz?«, eine solide medizinische Grundlage für Kritik. Und ein italienischer Mediziner und Gesundheitsfunktionär, Armando Mattioli, erklärt auf erhellende Weise gesellschaftliche »Ursachen für die pandemiebedingte Krise in Italien«.
Hier wird profunde Kritik geübt, von Fachleuten mit starken Argumenten unterfüttert. Andrej Hunko von der Linksfraktion im Deutschen Bundestag konstatiert, dass die Weltgesundheitsorganisation (WHO) seit Jahren großen Reformbedarf habe. Und Bernhard Heinzlmaier merkt an, dass ein Bildungssystem, das stark auf Onlineunterricht setzt, keines sei. »Die weitgehende Privatisierung des Schulunterrichts hat das Bildungsgefälle zwischen Bourgeoisie und unterprivilegierten Schichten weiter verstärkt, die Klassenspaltung ist damit weiter vertieft worden«, schreibt er.
Als Grundlage der Coronapolitik wird in mehreren Beiträgen nachvollziehbar die kapitalistische Notwendigkeit eines »neuen Akkumulationsmodells« benannt: Die Industrie befindet sich in vielen wichtigen Ländern in einer mehr oder weniger dauerhaften Absatzkrise; nun wird der Übergang zur kommerziellen Ausbeutung menschlicher Regungen durch die allgegenwärtigen Datensammlungen bei Online-Aktivitäten (mit dem Telefon in der Tasche ist ja jeder Spaziergang eine Online-Aktivität) organisiert.
Am gehaltvollsten ist im Buch die Kritik an den staatlichen Zwangsmaßnahmen. Der emeritierte Politikwissenschaftsprofessor Joachim Hirsch aus Frankfurt am Main beginnt seinen Aufsatz unter der Überschrift »Sicherheitsstaat 4.0« mit einem Hinweis auf sein schon 1980 erschienenes Buch: »Der Sicherheitsstaat«. Damals sei in kritischen Diskussionen bisweilen die Formulierung »Bürger als Sicherheitsrisiko« verwendet worden. Wahrscheinlich haben sich noch nie so viele Menschen als potenzielles Sicherheitsrisiko gefühlt wie 2020.
In diesem und anderen Buchbeiträgen wird darauf hingewiesen, dass die Corona-App nur nach kritischen Interventionen aus der Zivilgesellschaft datenschutzfreundlich gestaltet wurde. Gesundheitsminister Jens Spahn wollte eigentlich eine Ortung der Mobiltelefone von potenziell Infizierten und laut Infektionsschutzgesetz anordnen, »dass bedrohte Teile der Bevölkerung an Schutzimpfungen oder anderen Maßnahmen der spezifischen Prophylaxe teilzunehmen haben, wenn eine übertragbare Krankheit mit klinisch schweren Verlaufsformen auftritt und mit ihrer epidemischen Verbreitung zu rechnen ist«.
Verwiesen wird auf eine jahrzehntelange Tradition, Gesetzesverschärfungen bei bestimmten Krisen einzuführen, ohne sie nach dem Ende wieder zurückzunehmen. Der Bürgerrechtler, Publizist und Anwalt Rolf Gössner hält fest, dass das Infektionsschutzgesetz sich »streckenweise wie ein Polizeigesetz liest«.
Der vielleicht wichtigste Satz des Buches steht eher unauffällig im Text des Journalisten Walter van Rossum, einem bekannten Medienkritiker. Er analysiert bissig, wie sich große Zeitungen und der Fernsehsender ARD zu Regierungsgehilfen gemacht haben, anstatt ein Mindestmaß an journalistischer Distanz zu wahren. Er schreibt: »Bei Corona haben es die Medien relativ bald geschafft, Politik, Experten und ein verstörtes Publikum vor sich herzutreiben.« Das ist nicht ganz richtig, denn dies unterstellt »Politik« und »Experten« zu wenig eigenen Willen. Wichtig ist aber der Hinweis darauf, dass Regierungshandeln nicht nur aus den Motivationen der Regierenden (und des Lobbyismus) herzuleiten ist, sondern oft auch aus der massenmedialen Stimmung. Unreflektiert verbreitete Schreckensbilder und Schreckensbotschaften sind wohl noch stärker für Panik verantwortlich als Firmenlobbyismus.
»Lockdown« ist nun also nicht das »Unwort des Jahres« geworden, ist aber ganz sicher das Unding des Jahres 2020. Dieser Sammelband liefert gutes Material für den Kampf dafür, dass das nicht auch für 2021 gelten sollte.
Hannes Hofbauer/Stefan Kraft (Hg.): Lockdown 2020. Wie ein Virus dazu benutzt wird, die Gesellschaft zu verändern. Promedia, 280 S., br., 19,90 €.
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