Waffenaffäre und Geheimsitzung

Mecklenburg-Vorpommern hinterlässt einen schlechten Eindruck im Breitscheidplatz-Ausschuss

Bereits zum zweiten Mal wurde am Donnertag der Chef des Verfassungsschutzes Mecklenburg-Vorpommern, Reinhard Müller, vor dem Breitscheidplatz-Untersuchungsausschuss im Bundestag vernommen. Nach einer dürftigen ersten Aussage sollte mit neuer Aussagegenehmigung mehr zu den Erkenntnissen in Erfahrung gebracht werden.

Schon Mitte 2016 hatte Müllers Behörde Hinweise einer Quelle erhalten, dass ein Anschlag in Berlin bevorstünde, der sich zum Ende des Ramadan ereignen sollte. Die Quelle, eingesetzt im Bereich organisierter Kriminalität, verwies auf eine Berliner Großfamilie als Drahtzieher. Da es aber zu keinem Anschlag kam, galt die Quelle für Müller fortan als unglaubwürdig. Nach dem Anschlag vom Breitscheidplatz am 19. Dezember 2016, bei dem insgesamt 12 Menschen getötet und mindestens 67 zum Teil schwer verletzt worden waren, meldete sich die Quelle erneut und teilte mit, die Großfamilie habe Anis Amri zum Attentat angestiftet.

Wie MV-Staatssekretär Thomas Lenz (CDU) am Freitag auch im Innenausschuss in Mecklenburg-Vorpommern ausführte, seien diese Hinweise aber nur an die Landesverfassungsschutzämter und das Bundesamt weitergegeben worden. Das bereits mit der Aufklärung des Anschlags befasste Bundeskriminalamt und die Generalbundesanwaltschaft wurden jedoch von den Verfassungsschützern nicht informiert. Die Generalbundesanwaltschaft erfuhr erst im August 2019 durch einen Whistleblower des Landesamtes für Verfassungsschutz davon. »Die Beurteilung der Ermittlungsrelevanz dieser Informationen obliegt aber allein den Strafverfolgungsbehörden«, kritisierte die Linke Martina Renner Obfrau im Untersuchungsausschuss, das Vorgehen. Müller und Lenz versuchten »nun mit teils absurden Begründungen das Vorgehen der Hausspitze zu rechtfertigen«, sagte Renner weiter.

Der Whistleblower hatte auf weitere Unregelmäßigkeiten hingewiesen, die eine konfiszierte Kalaschnikow betrafen. Lenz räumte seiner Erklärung diesbezüglich Fehler ein, die jedoch der Aussage von Verfassungsschutzchef Müller widersprechen. Müller hatte ausgesagt, den Weg der Waffe innerhalb seiner Behörde nicht zu kennen. Weder der Lagerort, der seit mehreren Jahren rechtswidrig verwahrten Waffe sei ihm bekannt, noch welche Person dafür verantwortlich war, konnte Müller benennen. Lenz räumte ein, »der Umgang mit dieser Waffe im Verfassungsschutz war gewiss nicht durchgängig ordnungsgemäß.« Müller hatte versucht, die Gefährlichkeit der Waffe vor dem Ausschuss kleinzureden. Parlamentarier*innen belehrten Müller daraufhin, dass eine Dekowaffe zuvor durchaus eine einsatzbereite Kriegswaffe gewesen sein kann. Müller kann nur eine Untersuchung Ende November 2019 vorweisen, bei der die Waffe unbrauchbar war. Dass dieser Zustand auch zuvor während mehrjährigen Phase des Besitzes durch das Landesamt gegeben war, ist damit allerdings nicht bewiesen.

Unerwartet trafen die Mitglieder des Bundestagsausschusses am Freitag zu einer geheimen Sitzung zusammen. Nach langem Ringen mit dem Innenministerium Nordrhein-Westfalens konnten sie nun die Vertrauensperson 01 (VP 01), Murat Cem, vernehmen. Der Spitzel, der durch das Landeskriminalamt NRW über 20 Jahre quasi hauptberuflich eingesetzt war, will schon Ende 2015 auf die Gefährlichkeit Amris hingewiesen haben.

»Die VP-01 war nicht nur sehr nah an Amri, sondern hatte direkten Zugang zu vielen Personen eines europaweit agierenden dschihadistischen Netzwerkes«, sagte Martina Renner dem »nd«. Sie kritisiert, dass die Quelle nicht genutzt wurde. »Die erlangten Informationen hätten den Ermittlungsbehörden die Möglichkeit gegeben, den Anschlag am Breitscheidplatz möglicherweise frühzeitig zu verhindern.«

Auch Irene Mihalic (Grüne) sieht die Wertigkeit der Quelle. »Der Zeuge hat unsere Sicht bestätigt, dass es extrem unwahrscheinlich ist, dass Amri den Anschlag ohne Mitwisser verübt hat.« Es sei klar, dass Amri seit dem Frühjahr 2016 ein enges Verhältnis zu Bilel ben Ammar hatte, der ihn auch am Vorabend der Tat getroffen hat und am Tattag telefonisch Kontakt suchte. »Das untermauert noch einmal, wie wahrscheinlich mindestens eine Mitwisserschaft ben Ammars zum Anschlag ist«, sagte Mihalic dem »nd«. Die Anfang 2017 erfolgte Abschiebung ben Ammars bezeichnete sie als voreilig und »extrem fahrlässig.«

Benjamin Strasser (FDP) forderte gegenüber »nd« neue Regelungen für den Einsatz von Vertrauenspersonen durch die Polizeibehörden. »Dieser V-Mann wurde über Jahre fast wie ein Mitarbeiter des LKA NRW und nicht wie eine externe Quelle geführt. Sowas kann nicht sein«, sagte Strasser.

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