Kaminer, Kandinsky und Jim
Wenn der Weihnachtsmann zweimal klingelt, muss das nicht schlecht sein
Goldmann-Verlag 202 S., geb., 20,00 €
Wladimir Kaminer: Meine Mutter, ihre Katze und der Staubsauger
Goldmann-Verlag 250 S., kt., 10,00 €
Britta Benke: Wer ist eigentlich dieser Kandinsky?
Kindermann-Verlag ab 6 Jahre, 44 S., geb., 18,00 €
Britta Benke: Wer ist eigentlich dieser Miro?
Kindermann-Verlag ab 6 Jahre, 44 S., geb., 18,00 €
Marek Toman: Die Konditorei zum Schielenden Jim
Illustrationen von Františka Loubat Aus dem Tschechischen von Raija Hauck
Drava-Verlag 200 S., kt., 14,95 €
Auf Youtube: Kaminer & Die Antikörper
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Menschen, die sich in verschiedenen Kulturen wohlfühlen, haben mehr Freude im Leben. Nicht nur, weil sie auf Reisen in ferne Länder nicht rummotzen müssen, wenn auf dem Frühstückstisch die Leberwurststulle fehlt oder das Müsli nicht knuspert. Dann isst man einfach eine Schüssel Kascha oder - wie in China - eine heiße Suppe. Ist das Weihnachtsfest in die Hose gegangen, weil der Tannenbaum zu früh genadelt hat oder peinliche Geschenke unter den Baum gelegt wurden, nutze man eine zweite Chance und feiere selbiges nach. Nämlich am 7. Januar, zur russisch-orthodoxen Weihnacht. Die Geschenke indes bringt Großväterchen Frost bereits zum Neujahrstag. Schuld an dem Wirrwarr hat Zar Peter, als er 1699 die Einführung des gregorianischen Kalenders befahl, der julianische der Orthodoxie trotzdem lieb und teuer blieb. So genau nimmt man es aber in Russland eh nicht, meist wird am Neujahrstag alles zusammen gefeiert, und die ganze Woche ist gesetzlicher Feiertag.
Für das geordnete russische Wesen in Deutschland ist Wladimir Kaminer zuständig. Den kann ich empfehlen, weil er meine Altersgruppe ist, abseitige Geschichten erzählt und die Rolling Stones verscheißert, die 1976 mit zwei Songs auf »Black and Blue« ihre kreative Tätigkeit beendeten und seither als Bühnenzombies Alt und Jung das Geld aus der Tasche ziehen. Und weil er versucht, Teenager und andere halbfertige Wesen zu verstehen - weshalb er »Rotkäppchen raucht auf dem Balkon« geschrieben hat, worin der wahre Kern des Großmutter-Enkel-Beziehungsdramas enthüllt wird, dazu andere Welterklärungen, die jene nicht besser, aber verständlicher machen.
Einen gewichtigen Beitrag zur Völker- bzw. Generationenverständigung leistete Kaminer mit dem vor zwei Jahren erschienenen Buch »Meine Mutter, ihre Katze und der Staubsauger«; und alles darin ist wahr. Ich kann das bestätigen, denn ich habe auch eine Mutter, die sich einen superintelligenten 2000-Euro-Staubsauger gekauft hatte, den wir liebevoll »Lunochod« tauften und so lange Intelligenztests unterzogen, bis ihn meine Mutter beleidigt zurückgab. Nur mit Katzen hat sie es nicht so, dafür sitzt bei ihr auf dem Sofa ein Plüschmutant aus Hamster und Tiger. Aber wie Kaminers Mutter hadert sie gern mit Personen aus früheren Lebensabschnitten und sieht statt russischem Weißtdunoch-TV MDR, was ungefähr auf das Gleiche hinausläuft. Egal ob Enkel, Sohn, Tochter, Eltern, Großeltern, lesen Sie am besten in kleiner Runde einander vor, trinken zur Einstimmung sto gram Baikal-Wodka (nicht Wodka Gorbatschow, der wird aus alten Autoreifen gebrannt) - und Sie werden erleben, wie sich als kathartischer Effekt eine Weihnachts- und Neujahrsgemütlichkeit in Ihnen ausbreitet, die fürs ganze nächste Jahr reicht. Wenn nicht, besuchen Sie auf Youtube »Kaminer & Die Antikörper«, das coronistische Volkskunstkollektiv Wladimir Kaminer, Yuriy Gurzhy, Anna Margolina und Katya Tasheva, da gibt es ein ganzes Videoalbum Gute-Laune-Musik und reichlich Begegnungen mit Mama Kaminer.
Die gesamten Feiertage durchzufeiern, wäre eine ziemlich öde Angelegenheit. Besser, Sie widmen sich ernsthaften Dingen, zum Beispiel der Kunst. Ein Einstieg für Kinder ist die neue Reihe »Wer ist eigentlich …?« aus dem Kindermann-Verlag, sehr schick gemacht, die Leben, Werk und Arbeitsweisen verschiedener Künstler erklärt. Mit Kandinsky und Miró ist man schon mal auf der richtigen Seite - dank guter didaktischer Führung sind die Bücher eine handfeste Anregung, selbst zu Pinsel, Stift und Papier zu greifen und sich in Form und Farbe zu verlieren.
Ich weiß, manchem sind die »Drei Haselnüsse für Aschenbrödel« heilig, aber die wahre Stärke des tschechischen Kinos liegt in Kriminal- und Westernparodien bzw. eigenwilligen Jules-Verne-Adaptionen. Ein Spaghetti-Western in Buchform ist Marek Tomans »Die Konditorei zum Schielenden Jim«. In der finstersten Prärie führt Fräulein Boženka aus Böhmen ein Kaffee- und Kuchenhaus und arbeitet zugleich als Gefängnisbibliothekarin. Hier treffen sich Trapper und Desperados zum wöchentlichen Leseabend und finden sich in Melville, Dumas und Karl May wieder. Raue Herzen werden weich, und alles könnte so kitschromanesk sein, tauchte nicht der Kritikergangster Dante Skunk Shakespeare auf. Ein High Noon ist unausweichlich. Toman tarnt sein Spiel mit dem literarischen Kosmos, seine Umberto-Eco-artigen Verknüpfungen und Verzahnungen als Kinderbuch mit anspruchsvollem Vokabular; und wenn die alte Trainerweisheit gilt, dass man ein Kind nie unterfordern, immer aber leicht überfordern soll, dann hat er mit diesem köstlichen Roman einen Volltreffer gelandet. Kinder, haltet dieses Buch fest, bevor es sich die Erwachsenen einkrallen und selber lesen! Mario Pschera
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