»Manche Dinge gehen mir total nah«

Die Coronakrise ist für Viele ein Einschnitt. Manchmal entsteht aus einer Zwangspause aber auch ein neuer Anfang.

  • Inga Dreyer, Anna-Lena Schlitt
  • Lesedauer: 8 Min.

Am 15. März kam die Kündigung - von einem Tag auf den anderen. Elena Martin Yenes hatte bis zu diesem Tag an der Bar im Fußballstadion bei RB Leipzig gearbeitet. »Ich fand gut, dass dann keine Spiele mehr stattfanden«, sagt sie. Persönlich aber verlor sie dadurch eine Einkommensquelle - wenn auch eine, mit der die Anthropologie-Studentin schon länger haderte. »Ich habe da schon gern gearbeitet. Meine Chefs waren cool, aber die Strukturen waren schwierig.«

Mit Strukturen meint die 27-Jährige vor allem die klaren Hierarchien im Service-Bereich. Einflussreiche Positionen würden meist von Männern besetzt, während die Barkräfte und Kellner*innen zumeist Frauen seien. Auch in der VIP-Lounge des Stadions, wo die Studentin arbeitete, waren die Rollen klar verteilt. »Es hat sich abgezeichnet, wer sich bedienen lässt und wer nicht. Ich habe meine Kolleginnen als Hostessen nicht beneidet.«

Aber auch an der Bar bekam sie sexistische Sprüche ab und wurde von Kund*innen geduzt, während sie beim »Sie« bleiben musste. Elena Martin Yenes hatte sich bereits nach anderen Jobs umgeschaut und begonnen, als Freizeitassistentin für Menschen mit Schwerbehinderung zu arbeiten. Trotzdem hätte sie wohl weiter im Stadion gearbeitet, wenn die Pandemie nicht gekommen wäre. »Ich muss Geld verdienen. Aber eigentlich war das schon lange nicht mehr befriedigend. Ich war schon ein bisschen froh, dass mir die Entscheidung abgenommen wurde«, sagt sie.

Der Job im Stadion war physisch anstrengend. Manchmal musste sie acht bis zwölf Stunden im Stehen, bei großem Trubel und erheblicher Lautstärke arbeiten, hatte nur wenige Pausen. Mit Fußball und Fankultur kann Martin Yenes selbst wenig anfangen. »Die Diskussion, wie wichtig Spiele sind, geht mir auf die Nerven. Das sind verschwendete Ressourcen.«

Nun arbeitet sie neben dem Studium als Freizeitassistentin und verdient dabei weniger als im Stadion, empfindet die Arbeit aber als sinnstiftender. »Das ist der Weg, den ich weiter ernsthaft beruflich verfolgen möchte«, betont sie.

Als die Kündigung des Stadionjobs kam, war die Gesamtsituation gerade nicht leicht, denn auch sozial musste die Studentin erst mal mit dem Lockdown klarkommen. »Im Zuge dessen habe ich gemerkt, dass der Job als Assistentin total wichtig ist, weil total viele Unterstützungsmöglichkeiten für Menschen mit Behinderungen weggefallen sind.« Beispielsweise seien viele Werkstätten geschlossen worden. »Da habe ich mich voll in die Arbeit gestürzt.«

Wenn sie abends nach Hause komme, sei sie nun eher emotional als körperlich geschafft. »Manche Dinge gehen mir ziemlich nah. Ich kann manchmal nicht schlafen, weil ich über bestimmte Situationen nachdenke.«

Zur Zeit hat sie zweimal in der Woche eine feste Klientin, die wegen körperlicher und kognitiver Einschränkungen bei verschiedenen Aufgaben im Alltag Unterstützung braucht. »Ich bin sozusagen ihr verlängerter Arm und ihr verlängertes Bein«, sagt Elena Martin Yenes. Für sie sei es sehr bereichernd, durch Menschen, die nicht der gesellschaftlichen Norm entsprechen, andere Perspektiven auf die Welt zu entwickeln. »Das lehrt Demut.«

»Ich war in einer Art Tunnel«

Anfang des Jahres bestand das Leben aus Lernen, Lernen, Lernen. »Ich war in einer Art Tunnel«, erzählt Ronja. Sie schaute nur auf das, was am Ende auf sie wartete: das Abitur.

Dann kam Corona. Von einem Tag auf den anderen schlossen die Schulen, erzählt die 19-Jährige Münchnerin. Den Abiturient*innen fehlte plötzlich die Struktur. Nun mussten sie sich ihren eigenen Tunnel bauen, um auf Kurs zu bleiben. Ronja hatte damit große Probleme. »Ich kann alleine zu Hause nicht gut lernen. Auch nicht mit irgendwelchen Online-Meetings«, sagt Ronja. Auch persönlich ging es ihr im ersten Lockdown nicht gut.

Sie begann, sich umzuschauen, machte ein Praktikum im Supermarkt, kochte häufig, züchtete Pflanzen. »Ich habe alles gemacht, was mir gerade in den Sinn kam.« Das war neu.

An den schriftlichen Abitur-Prüfungen nahm sie teil. Doch dann standen die mündlichen an - darunter eine Gesangs-Prüfung. »Ich hatte in den vier Monate davor keinen Gesangsunterricht mehr. Mir war klar, dass ich komplett durchrasseln würde«, erzählt Ronja. »Ich habe dann beschlossen: Ich gehe einfach nicht hin.«

Sie rief in der Schule an und teilte mit, dass sie nicht kommen würde. »Das war für mich selbst erst mal ein Schock, weil ich gemerkt habe: Da bricht etwas zusammen, worauf ich mich so viele Jahre lang vorbereitet habe.« Gleichzeitig war da noch etwas anderes: die Gewissheit, etwas für sich selbst entschieden zu haben. Die Reaktionen waren unterschiedlich. »Ich hatte das Gefühl, meine Mutter hat das sehr getroffen«, berichtet Ronja. Ihr Vater hingegen fragte erst mal, wie es ihr selbst damit gehe. Die Lehrer*innen reagierten zunächst verwirrt, dann aber positiv. Am wenigsten Verständnis hatten Mitschüler*innen: Warum jetzt aufgeben? »Mach’s doch einfach«, sagten viele.

Doch Ronja hatte keine Lust mehr, irgendetwas einfach zu machen. Sie überlegte, was sie wirklich wollte: wegziehen, eigenständig sein, einen Beruf erlernen. »Ich wollte so weit weg, wie es geht.« Sie bewarb sich bei ganz unterschiedlichen Betrieben. So landete sie bei einer Bio-Einzelhandelskette in Hamburg.

Allen Befürchtungen zum Trotz ging dann alles recht schnell. Ein paar Monate später hat Ronja eine eigene Wohnung, ist freundschaftlich vernetzt, politisch organisiert.

Die Ausbildung macht ihr großen Spaß, selbst die Berufsschule. Die lebenspraktischen Themen interessieren sie und begegnen ihr täglich bei der Arbeit: »Wie man Obst und Gemüse lagert oder welche Inhaltsstoffe im Brot sind. Für mich ist es einfach, so etwas zu lernen.« Am Gymnasium hingegen war bei jedem Jahreswechsel fraglich, ob sie versetzt werde.

Das Interessanteste ist für sie der Kontakt mit Kund*innen. So hat sie sich wahrscheinlich auch mit Corona infiziert, aber die Krankheit glimpflich überstanden.

Überhaupt habe sie viel Glück gehabt, sagt Ronja. Weil sie gesund ist, Eltern hat, die für eine Wohnung bürgen - und die Freiheit, Entscheidungen zu treffen, die sich richtig anfühlen. Die innere Krise, so sagt sie, war schon viel früher da. »Corona war nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.«

»Alles war der Effizienz untergeordnet«

»In einem Zoomcall mit sechs Siebtklässlern, das war für mich eine Horrorvorstellung!« Als das Nachhilfeunternehmen, für das Bastian arbeitete, seinen Unterricht coronabedingt ins Digitale verlegte, gab er seinen Nebenjob als Nachhilfelehrer auf. »Die Arbeitsbedingungen waren in Präsenz schon schlecht«, erzählt der 23-jährige Student. Als er dann erfuhr, dass das Unternehmen online weitermachen wolle wie bisher, befürchtete er das Schlimmste: »Im Worst Case hätte ich sechs Schüler gleichzeitig betreuen müssen. Das ist einfach nicht umsetzbar!«

Zu große Schülergruppen verschiedenster Klassenstufen und Fächer in ständig wechselnder Besetzung, das war für Bastian schon vor der Pandemie an der Tagesordnung. Hinzu kam die katastrophale Ausstattung der Räumlichkeiten: Schulbücher sind ebenso wie technische Geräte veraltet - und viel zu wenig vorhanden. Ständig musste Bastian improvisieren. »Das ist einfach sehr, sehr stressig«, betont der ehemalige Nachhilfelehrer, »und steht in keinem Verhältnis zur Bezahlung.«

Wie die anderen Lehrer*innen war Bastian nicht am Institut angestellt. Die Bezahlung liegt knapp über dem Mindestlohn. Und aus der Unternehmensführung gab es Druck: Die Mitarbeiter*innen würden dazu angehalten, so viele Kinder wie möglich in die Gruppen zu pressen, um den Gewinn zu maximieren, erzählt Bastian. »Da wurde alles der Effizienz untergeordnet - nicht der Lerneffizienz, sondern der wirtschaftlichen Effizienz. Die Schüler kamen immer zuletzt.«

Das Nachhilfeinstitut ist chronisch unterbesetzt. Deshalb musste der junge Lehrer oft den Unterricht in Fächern übernehmen, für die er sich fachlich nicht qualifiziert fühlt. Im Endeffekt habe man ihm »jedes Fach zugeschustert, bei dem gerade Not am Mann war«, erzählt er. Und wenn wieder einmal eine Lehrkraft wegen der schlechten Arbeitsbedingungen aufhörte, saßen in Bastians Kurs noch ein paar Schüler*innen mehr. Bei dem ständigen Wechsel könne man sich gar nicht aufeinander einstellen - darunter litten vor allem die Kinder.

Die Förderung der Schüler*innen hänge allein an den Honorarkräften, erzählt Bastian. Ab und zu verlängerte er der Kinder wegen seine Unterrichtsstunden: »Wenn ich gemerkt habe, der Schüler hat eine Klausur vor sich und ist noch nicht vorbereitet, dann habe ich eine halbe Stunde drangehängt« - ohne Bezahlung, versteht sich. Dieses Beispiel zeige gut, wie fehlerbehaftet das ganze Konzept sei, findet Bastian. »Aber was soll ich tun? Ich kann ihn doch nicht einfach heimschicken!«

Die Wissensvermittlung liegt Bastian. Schon zu Schulzeiten halft er Mitschüler*innen bei den Hausaufgaben und lernte gemeinsam mit ihnen für das Abitur. »Die Sache an sich macht mir großen Spaß«, lacht Bastian, »und ich habe auch ein Talent dafür.«

Doch die Arbeitsbedingungen am Nachhilfeinstitut machten ihm zu schaffen. Von Woche zu Woche wuchs der Frust. Als die Corona-Pandemie die Situation noch zu verschlimmern drohte, kündigt Bastian. Ein erleichterndes Gefühl: »Die Arbeitsbedingungen waren so schlecht, dass ich schlussendlich nur froh war, weg zu sein.« Lange konnte er sich nicht zu diesem Schritt durchringen, wollte die Kinder nicht im Stich lassen. Dass der Unterricht digital ohnehin nicht umsetzbar schien, machte ihm den Abschied leichter.

Jetzt will Bastian die freie Zeit erst mal für sein Studium nutzen - Politologie und Volkswirtschaftslehre in Regensburg: »Mein Studium ist unfassbar spannend, aber ziemlich zeitaufwendig.« Auch deshalb ist Bastian eigentlich ganz froh über den Schlussstrich. Zwei Semester sind es noch bis zu seinem Abschluss. Und wenn er fertig ist, kann sich einen lehrenden Beruf durchaus wieder vorstellen. Zum Beispiel in der politischen Bildung - und unter besseren Arbeitsbedingungen.

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