Nicht die beste, sondern gar keine Triage

Medizinrechtler Oliver Tolmein über Kriterien bei der Behandlung von Covid-19-Patienten

  • Celestine Hassenfratz
  • Lesedauer: 6 Min.

Die Behandlungssituation für Corona-Infizierte verschärft sich, teilweise sind die Kapazitäten erschöpft. Die Sorge wächst, dass nicht jeder und jede Coronakranke voll versorgt werden kann. Wie lassen sich Entscheidungen, wer wird behandelt, wer nicht, in solch einer Situation treffen? Gibt es gute Kriterien dafür?

Als Jurist sehe ich zwei Ansatzpunkte: die Verfahrensgerechtigkeit und die materielle Gerechtigkeit. Zur materiellen Gerechtigkeit gehört die Frage: Wie verhalte ich mich dem einzelnen Individuum gerecht gegenüber, welche Einschränkungen, Vorerkrankungen, Lebenssituationen werden in die Entscheidungen einbezogen? Mit Verfahrensgerechtigkeit ist gemeint, wie und von wem die Kriterien festgelegt werden.

Triage

Der Begriff: »Triage« kommt aus dem Französischen und bedeutet »Auswahl« oder »Sichtung«.

Die Praxis: Triagieren gehört in Notaufnahmen zum Alltag, stammt jedoch ursprünglich aus der Militärmedizin. Es beschreibt die Einteilung von Patient*innen nach der Schwere ihrer Verletzungen. Dadurch können Ärzt*innen und Pfleger*innen leichter entscheiden, wer zuerst behandelt wird.

Die Debatte: Durch die Corona-Pandemie hat der Begriff neue Aktualität erhalten. Im Frühjahr mussten Ärzt*innen in Italien, Frankreich und Spanien die Triage anwenden, also entscheiden, wer behandelt und wer sterben wird. Auch in Deutschland wird jetzt vermehrt über Triage gesprochen, da die Kapazitäten einiger Krankenhäuser bereits am Limit sind.

Der Expertenstreit: Die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) führt in ihrem Leitfaden Kriterien von Vor- und Begleiterkrankungen auf, die das Langzeitüberleben beeinflussen, darunter weit fortgeschrittene, generalisierte neurologische und neuromuskuläre Erkrankungen. Die medizinischen Fachgesellschaften schreiben, dass aus Gründen der Gerechtigkeit unter allen schwer kranken Patientinnen und Patienten ausgewählt werden müsse - egal, ob sie schon auf der Intensivstation liegen oder nicht. So könne auch die Zahl vermeidbarer Todesfälle minimiert werden. Der Ethikrat betont hingegen, dass das geltende Recht geschützt werden müsse - und das verbiete das Abschalten von Beatmungsgeräten aus solchen Gründen. ch

Wer sollte daran beteiligt sein?

Wir brauchen Gremien, die divers zusammengesetzt sind. Menschen mit Behinderungen gehören da genauso rein wie Ärzt*innen und Pflegende. Wie andere bioethische Fragestellungen kann das nicht abschließend in einem Regelwerk geregelt werden. Es ist zu komplex. Es geht darum, einen Korridor an Entscheidungsmöglichkeiten durch bestimmte Prinzipien einzugrenzen, die keine Benachteiligung wegen Behinderung oder Geschlecht zulassen - und klären, was es heißt, wenn die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) sagt: Wir wollen gar nicht benachteiligen. Aber ihre Kriterien diskriminieren. Mittelbare Diskriminierung gibt es bereits.

Woran machen Sie das fest?

Vor einigen Tagen habe ich an einer Tagung teilgenommen. Vertreter aus der Behindertenhilfe von Caritas berichteten von Menschen mit Behinderung, die bereits Schwierigkeiten haben, ins Krankenhaus aufgenommen zu werden. Das ist eine vorgelagerte Triage. Wenn ich nicht aufgenommen werde, lande ich nicht auf der Intensivstation.

Wie kann so etwas vermieden werden?

Wir sind ein hochmobiles Land, Covid-19-Infektionen sind nicht schön, aber in der Regel so, dass keiner blutend auf der Straße liegt und innerhalb einer Stunde auf eine Intensivstation kommen muss, weil er ansonsten tot ist. Wir haben ja Erfahrungen. So wie Patienten aus Frankreich oder Italien nach Deutschland kommen konnten, so kann man auch von Sachsen nach Hamburg verlegen.

Bereits im März hat die Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin Leitlinien für die Triage erarbeitet. Wichtiges Kriterium für die Frage, wer intensivmedizinisch behandelt wird, ist die klinische Erfolgsaussicht. Sie haben im Juli für neun Mandant*innen mit Behinderung Klage beim Bundesverfassungsgericht eingereicht. Warum?

Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen das Untätigbleiben des Gesetzgebers, nicht gegen die Leitlinien der DIVI, denen grundsätzlich keine rechtliche Verbindlichkeit zukommt. Wir haben 73 Millionen Deutsche, die gesetzlich krankenversichert sind. Nach dem Sozialgesetzbuch V muss jeder die erforderliche und indizierte Behandlung bekommen. Der Behandlungsanspruch der Patient*innen wird abgesichert durch eine Leistungsbereitstellungsgarantie der Krankenkassen. Damit ist die Triage rechtlich in Deutschland nicht vorgesehen. Eine Situation, in der Menschen - nicht einer oder zwei oder drei, sondern Dutzende, Hunderte, Tausende - die erforderliche mögliche medizinische Behandlung nicht bekommen, muss deswegen auf jeden Fall geregelt werden.

Das Verfassungsgericht hat Ihren Eilantrag abgewiesen, aber geäußert, dass die Beschwerde selbst nicht offensichtlich unzulässig ist. Das bedeutet doch wohl, dass eigentlich Handlungsbedarf beim Gesetzgeber besteht, oder?

Das hat uns gefreut, weil gerade Verfassungsbeschwerden wegen Untätigkeit des Gesetzgebers es im Bereich der Zulässigkeit sehr schwer haben. Dass der Gesetzgeber tätig werden muss, sehen wir auch, wenn wir auf die Diskussion um die Verteilung von Impfstoffen schauen.

Wieso? Die Gefährdetsten sollen doch zuerst geimpft werden.

Genau. Aber hier ist das Gesundheitsministerium der Auffassung, dass die Ärzte nicht einfach verteilen können, wie sie möchten, sondern dass es einer Verordnung für die Verteilung des knappen Gutes bedarf. Wenn die Zuteilung von Impfstoffen vom Staat geregelt werden muss, dann gilt das meiner Meinung nach erst recht für die Zuteilung lebensrettender Behandlungen: Das ist eine wesentliche Frage, für die wir ein Parlamentsgesetz benötigen.

Der Ethikrat hat bestätigt, es sei nicht die Aufgabe des Staates, Kriterien für die Verteilung von Intensivbetten und Beatmungsplätzen zu definieren. Bundesjustizministerin Christine Lambrecht lehnt bislang weitere Vorgaben ab. Sie sieht die staatliche Fürsorgepflicht vor allem darin, eine Überbelastung des Gesundheitssystems zu vermeiden. Die Entscheidung über die Verteilung überlässt man den Ärzt*innen.

Der Ethikrat hat zu bedenken gegeben, dass es für den Gesetzgeber sehr schwierig ist, eine Verteilungsregelung zu treffen, weil damit Grundrechte berührt werden. Das sehe ich, aber die Verteilung bleibt trotzdem eine gesellschaftliche und politische Frage. Es ist sehr erfreulich, dass sich das Bundesverfassungsgericht bislang sehr offen gezeigt hat - und damit hoffentlich ermöglicht, dass diese schwierige Problematik geklärt wird.

Eine Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung hat acht europäische Länder verglichen, wie die Entscheidungskriterien im Falle einer Triage sind. In keinem Land gibt es spezielle Triage-Gesetze. Nur in Norwegen wird medizinisches Personal bei einer möglichen Triage priorisiert. Weshalb tun sich offensichtlich alle so schwer mit dieser Debatte?

Es ist nicht so, dass die Debatte, die wir hier führen, singulär ist. In den USA etwa gibt es durchaus Regelungen auf Ebene der Bundesstaaten. Dort gibt es bereits Verfahren um die Kriterien. Rechtsstaatlichkeit ist manchmal mühselig und verhindert auch im Einzelfall einfach erscheinende Regeln. Für Politiker ist Triage kein sonderlich attraktiv wirkendes Betätigungsfeld: Organisieren, wer nichts bekommen und sterben soll - wer will so was denn?

Welche Rolle spielen Patientenverfügungen bei einer Covid-19-Infektion? Können Patient*innen den Ärzt*innen die Entscheidung damit abnehmen?

Das ist Wunschdenken. Die meisten wollen behandelt werden - und das zu Recht. Es wäre äußerst unethisch, jetzt auf diese Leute Druck auszuüben, damit sie von selbst erklären, sie wollten keine Behandlung.

Ein Schweizer Unternehmen hat den cSOFA-Score entwickelt: Anhand einer Blutprobe soll dieser innerhalb weniger Minuten Informationen zum Schweregrad der Covid-19-Infektion und der Wahrscheinlichkeit einer klinischen Verschlechterung liefern. Sind solche Tests sinnvoll?

Tests bergen ein hohes Maß an Unsicherheiten, die wir nicht mehr korrigieren können, weil am Ende die Leute tot sind. Auf die normativen Fragen und Probleme wissen Tests gar keine Antwort. Man wird keine Lösung finden, mit der alle glücklich sind, aber man muss eine Lösung finden, die irgendwie akzeptabel ist. Davon sind wir weit entfernt und bleiben es auch, wenn allein eine medizinische Fachgesellschaft über die Kriterien entscheidet. Wenn die medizinische Fachgesellschaft die Auffassung vertritt, die Regelungen müssen in erster Linie für Ärzte zumutbar sein, sage ich: Nein, sie muss in erster Linie für Patienten zumutbar sein. Ärzte wie Juristen sind dienende Berufe, es sind Dienstleister, niemand ist zu Höherem berufen.

Was erhoffen Sie sich von der weiteren gesellschaftlichen und politischen Diskussion?

Wir wollen nicht die beste Triage, sondern gar keine Triage. Triage oder Priorisierungen stellen einen unglaublichen Bruch in unserem Solidarsystem dar. Wir müssen befürchten, dass das - einmal durchgesetzt - Hemmschwellen absenkt, insgesamt eine andere Gesundheits- und Versorgungspolitik einzuleiten. Trotzdem wollen wir eine gesetzliche Regelung, die im Kern Rahmenbedingungen schafft und der Diversität unserer Gesellschaft gerecht wird. Wir brauchen eine Krankenversorgung, die im Ernstfall allen Rechnung trägt. Jetzt haben wir die Diskussion, und wir werden sie noch eine zeitlang haben. Vielleicht schaffen wir es mit viel Glück, dass wir über die zweite Welle kommen.

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