Europäische Mindestlöhne oder Potemkinsche Dörfer?

Der Richtlinienvorschlag der EU-Kommission für Entgeltuntergrenzen verzichtet auf jegliche rechtliche Verbindlichkeit

  • Thomas Händel, Frank Puskarev
  • Lesedauer: 4 Min.

In ihrer Bewerbungsrede für das Amt der Präsidentin der Europäischen Kommission hatte Ursula von der Leyen am 27. November 2019 angekündigt: »Den Menschen geht es um Gerechtigkeit und Gleichheit in jedem Sinne des Wortes. Deshalb habe ich Nicolas Schmit (den EU-Kommissar für Beschäftigung, d. Verf.) damit beauftragt, unsere europäische Säule sozialer Rechte umzusetzen und Armut, angefangen bei der Kinderarmut, zu bekämpfen. Er wird einen Rechtsrahmen vorlegen, der sicherstellt, dass jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer in unserer Union einen gerechten Mindestlohn erhält.«

Man war überrascht. Sollte es trotz schwieriger Mehrheitsverhältnisse möglich sein, in dieser Europäischen Union noch sozialpolitische Fortschritte zu erzielen? Nun liegt der Entwurf einer Richtlinie zum Europäischen Mindestlohn vor - und er enttäuscht nahezu auf ganzer Linie. Er gleicht eher einem Potemkinschen Dorf. Ein solches ist laut Wikipedia ein Synonym für die »Vorspiegelung falscher Tatsachen«.

Die vorgelegte Richtlinie sollte das Prestigeprojekt von Kommissar Schmit werden und angemessene Mindestlöhne in den Mitgliedstaaten sichern. Davon kann nun keine Rede mehr sein. Schon eingangs stellt die Kommission in der Richtlinie klar, diese verpflichte keinen Mitgliedsstaat, Mindestlöhne einzuführen oder in einer bestimmten (angemessenen) Höhe allen zuzusichern.

Vielmehr ist der Text ein Katalog an Wünschen und Vorschlägen. Keine Frage: Diese sind durchaus ehrenhaft. Die Mitgliedstaaten sollen Tarifverhandlungen und Flächentarifverträge fördern, angemessene Löhne gewährleisten und der Kommission berichten. Aber: Sie müssen nicht. Die postulierte Stärkung der Tarifvertragssysteme ist löblich, bleibt aber eine Chimäre, solange man nichts unternimmt, die Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen auf nationaler und auf europäischer Ebene zu stärken und die Schwächung der Gewerkschaften zu verhindern. Und: Kein einziger der Wünsche ist rechtlich bindend, nirgends ist eine Zusage für Beschäftigte, dass sie sich auf die Zahlung von armutsfesten Mindestlöhnen verlassen können.

Argumentiert wird, der Vertrag über die Arbeitsweise der EU (AEUV) lasse im Paragraf 153 keine Möglichkeit, in Sachen Entgelten auf europäischer Ebene wirksam zu werden. Das ist jedoch strittig. So heißt es in Absatz 4 des Artikels zwar, dass dieser nicht für das Arbeitsentgelt (u. a.) gilt. Das schließt eine Befassung auf europäischer Ebene mit Arbeitsentgelten und damit auch einer angemessenen Höhe des Mindestlohnes noch nicht aus. Wäre dem so, würde zum Beispiel Artikel 157 (gleiches Entgelt für Männer und Frauen) dem widersprechen.

Man könnte demnach auch andere Artikel des AEUV heranziehen, um ein europäisches Mindestlohnniveau zu verankern, so zum Beispiel das Ziel der sogenannten Aufwärtskonvergenz in Verbindung mit gleichwertigen Lebensverhältnissen und der Kompetenz der Kommission, sich eine Kompetenz anzueignen, wenn die Mitgliedstaaten nicht in der Lage sind, ein Problemfeld überall und angemessen zu bearbeiten (sogenannte Kompetenzkompetenz). Dies ist aber in der Kommission in ihrer Gesamtheit und vor allem im Rat mehrheitlich weder gewollt und noch derzeit anders durchsetzbar. Ein europäisches Mindestlohnniveau wäre dringend nötig. Selbstredend kann der Mindestlohn nicht nominal einheitlich sein. Dazu sind die jeweiligen Volkswirtschaften und Branchen zu unterschiedlich. Eine koordinierte Mindestlohnpolitik in der EU wäre dennoch höchst sinnvoll. Laut dem letzten Mindestlohnbericht des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung bewegen sich die Mindestlöhne in der EU derzeit zwischen knapp zwölf Euro in Luxemburg und weniger als zwei Euro in Bulgarien.

Laut der »Europäischen Säule sozialer Rechte« sollen Mindestlöhne allen Beschäftigten in der EU einen »angemessenen Lebensstandard« ermöglichen. Doch die Mindestlöhne in vielen EU-Staaten liegen zum Teil unterhalb des Existenzminimums und sind faktisch Armutslöhne. Ziel der EU-Politik müsste es daher sein, (Mindest-) Löhne über der Armutsgefährdungsgrenze zu etablieren. Diese liegt nach OECD-Standards bei 60 Prozent des jeweiligen nationalen Medianeinkommens. Das fordert auch der Europäische Gewerkschaftsbund.

Richtig ist: In vielen EU-Ländern würde das zu kräftigen Lohnerhöhungen führen. Aber Löhne über der nationalen Armutsgrenze wären nicht nur ein Befreiungsschlag gegen die mittlerweile vor allem in den südlichen Mitgliedsstaaten grassierende Armut. Sie könnten auch zu einer Reduzierung der durch Notlagen erzwungenen Armutsmigration führen. Exemplarisch seien hier osteuropäische Feldarbeiter*innen genannt. Das tatsächlich soziale Europa käme einen kleinen Schritt näher. Im Übrigen müsste der Mindestlohn in Deutschland dann auf annähernd 13 Euro steigen. Für die Wunschliste der Kommission bräuchte es das Rechtsinstrument einer Richtlinie eigentlich nicht. Eine Mitteilung hätte denselben Effekt. Mit diesem Richtlinienvorschlag wird mithin Aktivität nur vorgetäuscht. Maßnahmen werden auf die Ebene der Mitgliedsstaaten und damit auf den Sankt-Nimmerleinstag verschoben. Der Kommissionsvorschlag bleibt es bei allen anzuerkennenden Bemühungen eine vergebene Chance. Und für die Öffentlichkeit ein Potemkinsches Dorf.

Thomas Händel war von 2009 bis 2019 Mitglied der Linksfraktion im Europaparlament und leitete dessen Beschäftigungs- und Sozialausschuss. Derzeit ist er stellvertretender Vorstandschef der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Frank Puskarev ist wissenschaftlicher Mitarbeiter für Europa-, Kultur- und Medienpolitik der Linksfraktion im Thüringer Landtag, zuvor war er Büroleiter von Thomas Händel in Brüssel.

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