Straßen ohne Ampeln als Ziel

Für Aktivist Roland Stimpel ist das Fußverkehrsgesetz nur ein Anfang

  • Nicolas Šustr
  • Lesedauer: 4 Min.
Auf dem Pankeweg in Berlin-Karow müssen Fußgänger, Radler und Autofahrer sehen, wie sie klarkommen.
Auf dem Pankeweg in Berlin-Karow müssen Fußgänger, Radler und Autofahrer sehen, wie sie klarkommen.

»Es war ein trauriges Jahr. Fast jede zweite Woche ist ein Fußgänger auf den Berliner Straßen bei einem Unfall getötet worden«, sagt Roland Stimpel. Wie in den Vorjahren sei wieder ein sehr hoher Anteil älterer Menschen unter den Verkehrsopfern gewesen. »Man weiß seit 100 Jahren, dass man ältere Menschen nicht an den schnellen Verkehr anpassen kann, der Verkehr wird trotzdem nicht an sie angepasst«, kritisiert der Vorstand des Fachverbands Fußverkehr.

Was sonst noch in der Berliner Verkehrspolitik 2020 geschah

Am 25. März wurden in Friedrichshain-Kreuzberg die ersten Pop-up-Radwege der Hauptstadt markiert. In der Corona-Pandemie sollten Radfahrer und Fußgänger mehr Platz bekommen, so die offizielle Begründung. Einige Bezirke folgten. Das zog viel politischen Streit nach sich, Abgeordnete der AfD zogen sogar vor das Verwaltungsgericht. In einer Eilentscheidung ordnete es im September den Abbau der temporär markierten Wege an. Das Oberverwaltungsgericht kassierte den Entschluss wieder. Inzwischen sind über 25 Kilometer Pop-up-Radwege in der Stadt markiert, zwei weitere Kilometer sollen noch folgen. Die Radspur in der Lichtenberger Straße in Friedrichshain ist nach Bauarbeiten vom Provisorium zur dauerhaften Einrichtung geworden. Aufs Jahr gerechnet nahm der Radverkehr um zehn Prozent zu.

Am 4. Dezember eröffnete die Verlängerung der U5 vom Alexanderplatz zum Hauptbahnhof nach 26 Jahren Planungs- und Bauzeit inklusive politisch und finanziell motivierter langer Pausen. Die SPD und die Oppositionsparteien wollen, dass bald weitere U-Bahn-Verlängerungen folgen. Linke und Grüne sowie Verkehrs- und Umweltverbände sprechen sich angesichts der Kosten- und Realisierungszeiträume und nicht zuletzt wegen der nicht gerade günstigen CO2-Bilanz mäßig ausgelasteter neuer Tunnelstrecken für einen Ausbau der Straßenbahn aus. Viele neue Tramstrecken stehen seit dem Mauerfall auf der Agenda - passiert ist seither wenig.

Im Mai erfolgte der Spatenstich für die Straßenbahnverlängerung von Adlershof nach Schöneweide. Nachdem zuletzt unklar war, ob die Strecke noch vor der Wahl im Herbst 2021 ihren Betrieb aufnehmen kann, heißt es von den Berliner Verkehrsbetrieben (BVG), dass die Bauarbeiten sogar schneller vorangingen als erhofft. »Wir gehen davon aus, dass die Strecke im dritten Quartal 2021 in Betrieb gehen kann«, so BVG-Sprecherin Petra Nelken auf nd-Anfrage.

Außerdem wurde der Netzentwurf für die geplanten Fahrradschnellwege vorgestellt und Planungsvereinbarungen für die Wiederinbetriebnahme der Siemensbahn und Kapazitätsausbauten mehrerer Eisenbahnkorridore unterzeichnet. Für den Wiederaufbau der Stammstrecke der Heidekrautbahn gab es einen Spatenstich am Bahnhof Wilhelmsruh. Doch bevor ernsthafte Bauarbeiten starten können ist noch viel Planung nötig. Das Ausschreibungsverfahren für die Vergabe von zwei Dritteln des Berliner S-Bahn-Netzes wurde nach langem Streit in der Koalition endgültig auf den Weg gebracht. Die BVG konnte nach langem Rechtsstreit die zuvor jahrelang politisch verschleppte Bestellung von bis zu 1500 U-Bahn-Wagen auslösen, dazu kommen noch bis zu 117 neue Straßenbahnfahrzeuge. Der rot-rot-grüne Senat und das Landesunternehmen unterzeichneten zudem den bis 2035 gültigen Verkehrsvertrag. Er sieht eine Ausweitung des Angebots der BVG um die Hälfte im Vergleich zum aktuellen Stand vor. nic

Hier soll das neue Fußverkehrskapitel im Berliner Mobilitätsgesetz Abhilfe schaffen. Anfang des Monats stimmte die rot-rot-grüne Koalitionsmehrheit im Verkehrsausschuss ihm zu, die endgültige Verabschiedung im Plenum des Abgeordnetenhauses in den nächsten Wochen ist eigentlich nur noch Formsache. »Alles, was im Fußverkehrsgesetz drin steht, ist richtig und schön«, sagt Stimpel. Gibt es also bald endlich Sicherheit für die Fußgänger in der Hauptstadt? »Es ist als symbolischer Akt gut, wenn es als erstes solches Gesetz in Deutschland kommt. Aber am Ende ist entscheidend, wie es gelebt wird«, warnt Stimpel vor allzu viel Optimismus.

Mit dem neuen Gesetz sollen etwa neue Zebrastreifen schneller auf die Straße kommen. Bisher ein überbürokratisiertes Verfahren, das 16 Schritte umfasst und von den zuständigen Bezirken kaum unter drei Jahren zu schaffen ist. Künftig kann die Senatsverkehrsverwaltung diese Aufgabe an sich ziehen.

Fußgänger sollen Straßen mit Mittelinseln künftig in einer Grünphase überqueren können, statt wie bisher zwischen den Verkehrsstreifen warten zu müssen. Versprochen wurde dies in den letzten Jahren schon öfter. »Ich führe keine Strichliste«, sagt Fußwegaktivist Stimpel. »Es ist eine wahnwitzige Aufgabe, alle Ampeln umzuprogrammieren«, erklärt er. Man sei da in einem Dilemma. Wenn es für alle sicherer gemacht werden solle, stünden alle noch länger vor roten Ampeln.

»Besser sind Verkehrsverhältnisse, die Ampeln überflüssig machen«, findet er. So wie auf der sogenannten Flaniermeile Friedrichstraße, dem seit September autofreien Abschnitt zwischen Französischer und Leipziger Straße, auf dem Stimpel gerade steht. Noch ist es nur ein Pilotprojekt, doch Verkehrssenatorin Regine Günther (Grüne) hat bereits angekündigt, es nicht nur bis Ende Januar, sondern mindestens bis Ende Oktober 2021 laufen zu lassen. Viel ist hier nicht los an diesem grauen Dezembertag, aber das dürfte sich nach dem Lockdown wieder ändern. »Es fehlen noch Zebrastreifen über die Radspur in der Mitte und es darf nicht so viel Zeug auf dem Fußgängerbereich und am Bordstein stehen, aber ansonsten ist das schon ziemlich gut«, meint Stimpel.

Auf nur wenigen Hundert Metern zwischen der Spree an der Weidendammer Brücke und der Flaniermeile zeigt Roland Stimpel Dutzende Beispiele dafür, was in seinen Augen für Fußgänger schief läuft. Das fängt beim fehlenden direkten Überweg am Spreeufer an. »Wenn man vom Weidendamm zum Reichstagsufer möchte, braucht man für die paar Meter drei Minuten, wenn man die Ampelübergänge nutzt«, erklärt er. Für ihn ein Zeichen, wie mit denen umgegangen wird, die am Empfindlichsten auf Umwege reagieren - den Fußgängern.

Es geht weiter mit Fahrradständern auf den Bürgersteigen. »Das ist eine Einladung für Radler, einfach direkt auf dem Bürgersteig zu fahren«, schimpft Stimpel, der zwei direkt anspricht. Einer der beiden wechselt sofort auf die Straße, der andere ignoriert ihn beharrlich, selbst als sich der Fußverkehrsaktivist ihm in den Weg stellt. »Natürlich ist Einzelansprache keine Lösung, die muss politisch geschehen, durch entsprechende Angebote und Kontrolle«, sagt er anschließend.

Doch er findet auch gute Beispiele. Die neu montierten Fahrradständer auf einstigen Auto-Parkplätzen etwa. Dann zeigt er auf einen Bettler, der an einem breiten Gehwegabschnitt hockt. »Der öffentliche Raum hat eine wichtige Funktion, er muss für alle da sein - und es muss den Platz dafür geben«, sagt Stimpel. Viel zu oft würden die Bürgersteige in Berlin zugestellt. Mit Werbeaufstellern, Schankvorgärten, Baustelleneinrichtungen, Verkehrsschildern und so weiter.

Grundsätzlich gibt es bei vielen Themen eine große Übereinstimmung zwischen den Fahrrad- und den Fußgängeraktivisten. Doch bei den geplanten Fahrradschnellwegen kochen die Konflikte hoch. »Auf der Heerstraße oder der Straße des 17. Juni sind die Planungen wunderbar«, sagt Stimpel. »Aber der Weg soll auch direkt über den Pariser Platz am Brandenburger Tor führen. Ein Platz zum Aufhalten, ein Ort, der mühsam dem Autoverkehr entrissen wurde«, empört er sich. Bisher querten rund 10 000 Radfahrer täglich den Platz - ohne größere Probleme. Künftig könnten es 30 000 werden. Auch an anderen Stellen, wo der Verkehr entschleunigt wurde, soll er nun wieder beschleunigt werden. »Da tritt die Radbewegung leider in die Fußstapfen der Autolobby«, attestiert Stimpel.

Das ist auch ein Generationenkonflikt. »Radfahrer sind tendenziell die Jungen, Fitten. Zu Fuß gehen hauptsächlich Kinder, alte Leute, Behinderte und Arme«, sagt Stimpel. Doch auch seine Lobby wächst. »Bei uns treten laufend neue Mitglieder ein«, berichtet der Vereinsvorstand.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal