Zwischen heiler und kaputter Welt
Kinderarbeitsexperte streitet weit von daheim um Gerechtigkeit
Pütters Büro liegt mitten im Freiburger Ökoviertel Vauban, seine Wohnung ist gleich nebenan. Es lebt sich leicht in dem Quartier. Beschaulich. Wie aus grünen Träumen: Autofrei, gewaltfrei und ohne Atomstrom. Dafür soziale Wärme, Passivhäuser und ein Kinderbauernhof. »Für dieses Leben haben wir uns bewusst entschieden«, sagt der 49-Jährige im entspannten Plauderton, lehnt sich in seinem Bürostuhl zurück und schlägt die Beine lässig übereinander. Gemeinsam mit Frau und Tochter lebt er in einem genossenschaftlichen Wohnprojekt. Heile Welt.
Kinder arbeiten von morgens bis abends
Ein paar Monate des Jahres verbringt Pütter allerdings weit weg von hier. Dann reist er in eine Welt, in der etwas ganz und gar nicht in Ordnung ist: Nach Indien, wo ein scharfes Kontrastprogramm zur Freiburger Beschaulichkeit herrscht. Dort werden Kinder zur Arbeit gezwungen - sie schuften in Steinbrüchen, in der Teppichindustrie oder auf Müllkippen. Zur Schule dürfen die Kindersklaven nicht. Und auch nicht auf der Straße spielen wie ihre deutschen Altersgenossen. Sie müssen von morgens bis abends arbeiten. Kaputte Welt.
»Mit dem Alter wächst die Größe des Hammers, das ist ihre einzige Entwicklung«, sagt Pütter über die Kinder, die er in indischen Steinbrüchen angetroffen hat. Die Kinder müssen auch für den deutschen Markt schuften, wo indische Natursteine begehrt sind, weil sie schön sind und wenig kosten. Pütters Aufgabe: »Ich befreie Kinder aus Sklavenarbeit. Ich will, dass diese Kinder zur Schule gehen können und eine Perspektive erhalten«.
Wenn er von Indien spricht, wird sein Tonfall schärfer, von dem lustigen Plauderton ist dann nichts mehr übrig. Aufrecht sitzt er hinter seinem Schreibtisch und rattert Fakten herunter: Der Handel mit Steinen sei »ein Milliardengeschäft«. Über 20 Prozent aller indischen Exporte gehen nach Deutschland. Indische Granitsteine werden auf Marktplätzen verlegt. Fast die Hälfte aller Grabsteine stamme aus Indien. Pütter wird drastisch: »An Tonnen von Grabsteinen klebt Kinderblut.« Schuldknechtschaft und Kinderarbeit sind auf dem Subkontinent zwar verboten, aber dennoch bittere Realität - billiger ist Arbeitskraft kaum zu haben. Hohe indische Politiker seien an diesen Geschäften beteiligt.
»In allen Steinbrüchen, die ich angekündigt besucht habe, bekam ich nie ein Kind zu sehen«, sagt Pütter. Also greift er zu Tricks. 2003 etwa hat er sich, begleitet von einem arte-Filmteam, als deutscher Steinhändler ausgegeben und illegal beschäftigte Kinder in einem Exportsteinbruch aufgespürt. Das Resultat: »Die Eigentümer sind gewarnt«, weiß Pütter. »Wenn ein Westler kommt, verstecken die Sicherheitsleute die Kinder und lassen keinen mehr rein.« Sein Job ist nicht ohne Risiko. Sogar mit Knüppeln habe man ihn hindern wollen, in einen Steinbruch zu gelangen. »Man will verhindern, dass irgendjemand davon erfährt, weil es um sehr viel Geld geht«, sagt Pütter. Dennoch überlistet er die Security immer wieder, zuletzt im Mai dieses Jahres. »Wir haben in zehn Steinbrüchen 106 Kinder gefunden«, berichtet er - etwa ein Viertel der Belegschaft. Die Verantwortlichen bei Misereor sehen es eigentlich nicht gerne, wenn er an Befreiungsaktionen teilnehme, sagt Pütter. »Ich soll die Gruppen, die das machen, nur beraten«. Die Lebenserwartung eines Kindersklaven im Steinbruch beträgt etwa 30 Jahre, berichtet Pütter. Daher könne er in solchen Situationen nicht daneben stehen. »Bei Befreiungsaktionen bin ich manchmal dabei und gehe mit der Polizei in Steinbrüche.«
Konfrontationen scheut der hochgewachsene Mann nicht. Der rote Faden in seinem Leben sei, »für eine andere Gesellschaft, für Menschlichkeit, für Gewaltfreiheit einzutreten«. Seine politischen Wurzeln liegen in der Friedensbewegung und im gewaltfreien Anarchismus, erzählt er und findet wieder zu seiner Gelassenheit zurück. Und in der Religion. So stieß er in den 70er-Jahren zum Internationalen Versöhnungsbund, einer Friedensorganisation, die zu Beginn des 1. Weltkrieges von Christen gegründet wurde und heute Angehörige aller Weltreligionen umfasst. »Spiritualität und direkte politische Aktionen« seien für ihn keine Gegensätze.
Vom KBW zur Pflugschar-Bewegung
Pütter spricht schnell, aber fast druckreif und hastet durch die Jahre: 1958 in Freiburg geboren, als Schüler zum Kommunistischen Bund Westdeutschlands (KBW). Zwischenstopp bei den Jesus-People. Dann, mit 16 Jahren, Eintritt in die SPD - und ein halbes Jahr später wieder raus. Schließlich die 80er-Jahre, die Hochzeit der Friedensbewegung in Westdeutschland: Pütter verspritzte Blut auf einer Waffenmesse in Hannover, eine Aktionsform, die er sich von den Berrigan-Brüdern aus den USA abgeschaut hatte, den Galionsfiguren der religiös inspirierten Pflugschar-Bewegung in den USA, die im September 1980 ihr selbst abgezapftes Blut in einer Atomwaffenfabrik vergossen haben.
Zu dieser Zeit studierte Pütter evangelische Theologie, lernte seine heutige Frau Ute Delor kennen, die vor ihrer Ausbürgerung in der DDR-Friedensbewegung aktiv war - und lebte in einem besetzten Haus in Berlin-Schöneberg. Mit tausenden Anderen blockierte er in Mutlangen ein Atomwaffenlager der US-Armee - und wanderte dafür 21 Tage ins Gefängnis. Er sei bei »direkten Aktionen insgesamt 36 Mal festgenommen worden«, sagt Pütter stolz.
Dass er sich heute ausgerechnet in Indien engagiert, hat auch mit der damaligen Zeit zu tun - »aber nichts mit Esoterik«, wie er schnell versichert. Indien war für ihn nie ein Selbsterfahrungstrip, wie für so viele andere westliche Wohlstandskinder, die die elenden Lebensverhältnisse auf dem Subkontinent als »irgendwie authentisch« verklärten. Seit 1995 macht er den Job als Kinderarbeitsexperte. Misereor war damals auf der Suche nach einem Indien-Kenner, der zugleich Bundestagserfahrung hat. Pütter konnte beides vorweisen, weil er Anfang der 80er Jahre erstmals Kontakte zur Genossenschaftsbewegung in Südindien knüpfte und diese später vertiefte, als er Workcamps für Jugendliche auf den Spuren Mahatma Gandhis organisierte.
Die geforderte Bundestagserfahrung sammelte er als Redenschreiber der Grünen-Abgeordneten Petra Kelly, die 34 Mitarbeiter verschliss und auch Pütter nach nur sechs Monaten wieder feuerte. Die Grünen-Bundestagsfraktion machte ihn nach dem Rauswurf im Sommer 1989 zum Ost-West-Sprecher, doch Mitglied bei den Grünen war er nie, betont er. »Ich fühle mich ökologisch, links, grün«, sagt Pütter heute. »Nur die Grünen sind da nicht mehr. Aber ich bin noch immer gewaltfrei, basisdemokratisch, sozial und ökologisch.« Insgesamt sechs Jahre arbeitete er im Bundestag. Als die Grünen 1990 aus dem Parlament flogen, kam er bei einem SPD-Abgeordneten unter, bevor er, der evangelische Theologe, zu Misereor ging.
»Personen zählen, nicht die Policies«, betont Pütter mehr als einmal. Petra Kelly etwa halte er zwar für eine »perfekte Politikerin«. Aber »sie zeigte keinerlei Menschlichkeit«. Dafür kommt er bestens mit einem Mann klar, mit dem er politisch eigentlich über Kreuz liegt: Norbert Blüm, CDU-Politiker und früherer Bundesarbeitsminister. Blüm engagiert sich seit jeher gegen Kinderarbeit, und als Pütter vor zwei Jahren die Organisation Xertifix gründete, die ein Gütesiegel für »saubere« Natursteine aus Indien vergibt, da gewann er den CDU-Politiker als Vereinsvorsitzenden.
Witz und Freude statt Klage über Schicksale
Ein Vorbild für Pütter ist Frère Roger Schutz, der im August 2005 ermordete Gründer der ökumenischen Gemeinschaft von Taizé in Burgund. Dort habe er - schon als Jugendlicher - gelernt, dass »man ein anderes Leben leben kann, als wir es im Kapitalismus führen. Diese Menschen hatten Witz, sie konnten lachen, sie hatten Selbstironie. Aber sie waren ganz klar in dem, wofür sie kämpften.«
Witz. Und Lebensfreude. Vielleicht lässt sich das Elend so besser ertragen? »Ich will nicht mit einem verzerrten Gesicht für Frieden und Gerechtigkeit eintreten«, sagt Pütter. »Es hilft den Kindern, die ich aus Sklaverei befreie, nicht, wenn ich mit ihnen über ihr schweres Schicksal heule. Es hilft ihnen viel mehr, wenn ich sie hinterher in die Luft werfe und mit ihnen lache.«
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.