Von der Hand in den Mund

Keine Arbeit und nichts zu essen - die Tunesier gehen auf die Straße und werden verhaftet

  • Mirco Keilberth, Tunis
  • Lesedauer: 4 Min.

Die seit vergangenem Wochenende anhaltenden Unruhen erreichen immer mehr tunesische Städte. Auch in kleinen Orten wie Bizerte kam es dabei zu Plünderungen. In Hay Ettadhamen, einem Armenviertel der Hauptstadt Tunis, sammelten Jugendliche am Dienstagnachmittag Steine, um sich auf die Auseinandersetzungen mit den Sicherheitskräften vorzubereiten.

Die zahlenmäßig weit unterlegenen Polizisten hatten in der Nacht zu Montag in mehreren Vororten von Tunis die Unterstützung der Nationalgarde angefordert. Seitdem patrouillieren Radpanzer und Uniformierte mit Maschinengewehren durch die Straßen.

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In Sfax, Sousse, Kairouane, Hamam Lif und mindestens acht anderen Städten versammelten sich meist junge Leute und lieferten sich Straßenschlachten mit den Beamten. Gewalttätig wurde es oft erst nach dem Einsatz von Tränengas, der mit Steinwürfen beantwortet wurde. Mindestens 600 Menschen wurden nach Angaben des Innenministeriums festgenommen.

Die scheinbar spontanen Proteste waren ausgebrochen, nachdem die Regierung überraschend einen landesweiten Lockdown angeordnet hatte. Als die Polizei Straßenhändler und kleine Gruppen auflösen wollte und in Hay Ettadhamen mehrere Männer in Mannschaftswagen zerrte, stellten sich Kollegen und Freunde der Festgenommenen den Beamten in den Weg.

Fedi Nijaoui betreibt in dem berüchtigten Stadtteil das Café »Serrai« und ist über die Eskalation direkt nach dem zehnjährigen Jahrestag der Revolution nicht verwundert: »Nach dem Lockdown im Frühjahr hatte hier kaum noch jemand einen Dinar in der Tasche. Viele meiner Kunden leben von der Hand in den Mund - das am Tag verdiente Geld reicht gerade mal für Essen. Nach der erneuten Schließung der Märkte und Läden bleibt vielen schlicht nichts mehr.«

Dass Premierminister Hichem Mechichi ausgerechnet einen Tag vor den geplanten Feiern zum Gedenken an die Jasmin-Revolution die Schließung des öffentlichen Lebens ankündigte, war für Nijaoui ein Schock. Mit dem Lockdown soll die in den letzten Wochen stark gestiegene Anzahl der Corona-Infektionen gesenkt werden.

Doch in Cafés wie dem »Serrai« sind viele Besucher davon überzeugt, dass das öffentliche Leben nicht zufällig an dem Feiertag heruntergefahren wurde. »Falls die Regierung damit Kundgebungen gegen die sozialen Missstände verhindern wollte, ging das gründlich schief«, sagt ein Zigarettenverkäufer hinter seinem selbst gebauten Verkaufsstand auf Rädern. Wie viele hier scheut der 25-Jährige nicht vor üblen Schimpfworten zurück, als er über die Unfähigkeit der Regierung Mechichi und die aktuelle politische Szene herzieht. Seinen Namen will er wie fast alle anderen Gesprächspartner nicht gedruckt sehen. Viele berichten von Freunden, die nach ihrer Verhaftung während der letzten großen Unruhen vor zwei Jahren noch immer in Haft sitzen.

Am Tage nach den Straßenschlachten geht es auf der Straße »105« überraschend ruhig zu. Wie im Zentrum von Tunis stauen sich die Autos in Nordafrikas am dichtesten besiedelten Stadtteil zwischen Essen-Ständen und fliegenden Händlern, die mit dem Verkauf von einzelnen Zigaretten oder Taschentüchern über die Runden kommen müssen. Kurz vor Beginn der abendlichen Ausgangssperre leeren sich die Straßen in wenigen Minuten.

Die Angst vor dem harten Vorgehen der Polizei ist neben der grassierenden Arbeitslosigkeit einer der Hauptgründe für die Wut auf der Straße. Seit mehreren Tagen fordern auch die sogenannten Verwundeten der Revolution die Anerkennung ihrer Verletzungen, die sie 2011 durch Tränengasgranaten oder scharfe Munition erlitten.

Die Behörden geben die Zahl der Opfer der Jasmin-Revolution mit 338 Toten und 2147 Verwundeten an. Polizei und Armee hatten vor allem in den südwestlich von Tunis gelegenen Provinzstädten Kasserine und Sidi Bousid scharf auf die meist jungen Demonstranten geschossen. Nach der Selbstverbrennung des Gemüsehändlers Mohamed Bouazizi waren 2011 Hunderttausende auf die Straße gegangen und hatten Meinungsfreiheit, Arbeit und Demokratie gefordert.

Vor dem Café »Serrai« sagt ein damals verwundeter Mann, dass die jungen Menschen seinen Kampf gegen die Ungerechtigkeit nun fortsetzen würden. »Ich warte nach zehn Jahren immer noch auf eine bessere Zukunft.« Kommentar Seite 10

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