Tödliche Tableaus

Nach über 20 Jahren ist das Debüt des US-amerikanischen Schriftstellers Jason Schwartz auf Deutsch erschienen - »Eine deutsche Pittoreske« sind meisterhafte Erzählungen aus einer unheimlichen Welt

  • Vincent Sauer
  • Lesedauer: 4 Min.

Wenn die Tattrigen ein Leben lang abgesparte Wertsachen mal nicht am vorgesehenen Platz finden, reden sie sich gerne mit dem Volksmund ein: »Im Haus geht nichts verloren.« Der amerikanische Schriftsteller Jason Schwartz übersetzt diese Redensart in einen Erzählzwang, der jedes traute Zuhause mit unheimlicher Bedeutung domestiziert. Mehr als 20 Jahre hat es gedauert, bis sein Debüt »Eine deutsche Pittoreske«, 21 kurze Prosaminiaturen, auf Deutsch erschienen ist.

Schwartz verdingt sich mittlerweile als Professor für Kreatives Schreiben in Florida, hat nur ein weiteres Buch veröffentlicht und seit vielen Jahren kein Interview mehr gegeben. An seinem Werdegang ist auffällig, dass er die Schriftstellerei bei Gordon Leish gelernt hat, dem Mann, der als Lektor von Raymond Carvers Kurzgeschichten in ihre weltberühmte Kein-Wort-Zuviel-Form gebracht hat. Schwartz‘ Texte hingegen verzichten auf halbwegs kohärente Handlung oder wenigstens angedeutetes Seelenleben der Figuren, wie so oft bei Schreibschulabsolventen, sondern ergießen sich als Referat eines Histo-Guides, der alles mögliche über Botanik, Heraldik, Religionsgeschichte weiß, aber seine Gegenwart wie ein auswegloses Archiv darstellt.

Das Buch ist einem jung verstorbenen Jeremy Schwartz gewidmet, hin und wieder taucht auch eine Mrs. Schwartz auf. Der Verdacht entsteht, dass wir es hier mit einer Familienaufstellung post mortem zu tun. An verschiedenen Orten der Alten Welt Europa und im US-Bundesstaat Virginia spricht sich ein Sohnemann, Enkelkind, entfernter Verwandter durch komplexe Interieurs alter Häuser und Ruinen auf dem Lande. Seine Vorfahren gespenstern durch die Texte. Erst flackern Geschichten auf, mal ein Hochzeitsfest, mal eine Beerdigung, dann erlöschen sie schnell wieder. Der Erzähler schafft dabei eine Intimität, die kein Vertrauen schafft. Immer wieder richtet er sich an ein Du, aber das macht keinen Unterschied, denn wir bleiben einem Monolog ausgeliefert: Es gibt keine Widerrede, keine Nachfrage.

Die Menschen machten ihre Verhältnisse in der Vergangenheit, jetzt werden sie nur noch so exakt wie möglich beschrieben. Im ersten Stück, »Antwerpen«, findet sich etwa eine Tantenliste von alttestamentarischem Ausmaß: »Tante Estelle heiratete im August: Birken, Marmorsäulen, ein Rasen. Tante Mae weinte um ihren Vater: Tante Blanche kam alleine. Tante Audrey brachte eine Bonbonschüssel, diese zerbrach aber in der Schachtel. Ein Kind mit Fliege spielte Klavier und sang: Antwerpen, Rosinenkuchen, ein Hut. Tante Estelle heiratete im August, der Bräutigam allerdings war mittelos. Tante Harriert hatte Kinderlähmung: Tante Blanche kam alleine.« Die Tanten werden Satz für Satz aufgereiht, quasi inventarisiert, mit einem beliebigen biografischen Aspekt versehen und an den Stammbaum gehängt.

Zwischen der Fülle an Informationen herrscht Leere, die kurzen Sätze wirken wie Indizien für die Frage, was es mit dieser abgestorbenen Welt in Wahrheit auf sich haben könnte. Aber anstelle von Erklärung werden stets nur weitere Erinnerungen auf den Leser losgelassen oder abrupt der Ort gewechselt. In der brutalen Provinz eines anderen Stücks, verweist nicht mehr der muffige Hausstand auf Leid und Versagung: »Hier verendete ein Pferd, während es gleichzeitig den Fuß eines Jungen abfraß. Die Grüne Schlecke hatte das Pferd aus dem Gesicht bluten lassen und seinen Bauch schwarz gefärbt. Ein Junge, dem die Arme fehlten, beugte sich einmal vor und streckte seine Zunge raus, um seine Zehe zu berühren - für einen Dollar. Irgendwer jagte ihn fort.«

Schwartz’ Miniaturen lassen die perfide Lust aufkommen, diese Krankheit und jene Fehlbildung im Lexikon nachzuschlagen und daraus ein Stickeralbum anzulegen. Aber was soll da jetzt »pittoresk« sein? Vielleicht nimmt das Buch unter diesem Titel den Bevormundungswunsch aufs Korn, der im etablierten Begriffspaar Schönheit und Erhabenheit schlummert. Im 19. Jahrhundert versuchten kunstsinnige britische Akademiker mit »picturesque« eine Erfahrung zu beschreiben, die weder bekömmlich-betulich schön ist noch göttlich-gewaltig erhaben. Schwartz’ Pittoreske verschweigt in einer Welt mit erlesenen Chiffaroben (Garderobenschränke), Killifischen (eierlegende Zahnkarpfen), Ferkelharpfen (Heutrocknungsgestell) konsequent die menschlichen Haltungen und Motive: also das, was die Verhältnisse zwischen all diesen interessanten Dingen bestimmt.

»Die Uhr tickt schwarz«, endet ein Absatz und macht deutlich, dass sich die edle Einrichtung nicht um ihre sterblichen Besitzer schert. So entwickelt Schwartz’ Prosa ihren dunklen Sog, keine Spannung, denn in dieser pittoresken Welt passiert nichts mehr. »Der Augenblick unerledigt«, lässt der Erzähler einmal beiläufig fallen und konfrontiert die Leserschaft mit der elenden Ohnmacht, dass alles mögliche Wissen abgelegt ist und zur Verfügung steht, man aber mit der eigenen Gegenwart nichts mehr anzufangen weiß, sondern sie nur noch betrachtet wie ein Museum.

Jason Schwartz: Eine deutsche Pittoreske. A. d. amerik. Engl. v. Andreas L. Hofbauer. Diaphanes, 120 S., br., 12 €.

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