Das wahre Drama: Verharmlosung

Beziehungstat, Sextäter oder von »Dämonen« getrieben: Berichterstattung über Gewalt gegen Frauen benennt diese selten als strukturelles Problem

Die Berichterstattung über Gewalt gegen Frauen und sexualisierte Gewalt ist ein Albtraum. Wie der Verein »Gender Equality Media« bei einer Analyse der Berichterstattung über (sexualisierte) Gewalt gegen Frauen festgestellt hat, waren 2020 ganze 93 Prozent der Medienberichte gewaltverharmlosend. Denn in den Texten ist statt von Femizid und Frauenmord, von Beziehungstat die Rede, Vergewaltiger werden zu Sextätern und Missbrauch zum Familiendrama. Nicht selten wird Gewalt gegen Frauen zu Clickbaiting, also reißerischen Überschriften, um möglichst hohe Zugriffzahlen zu erreichen.

Wer also danach sucht, kann jeden Tag einen neuen, Gewalt verharmlosenden Text in die digitale Tonne kloppen, längst nicht alle erhalten die nötige, kritische Analyse. Und so hätte vermutlich diese Woche auch die Berichterstattung des »Spiegel« wenig Aufmerksamkeit erhalten, hätte sie sich nicht um die Schauspielerin Evan Rachel Wood und ihre Missbrauchsvorwürfe gegen den Rockmusiker Marilyn Manson gedreht. Den Text twitterte »Der Spiegel« am Dienstag mit den Worten: »Mehrere Frauen, darunter Schauspielerin Evan Rachel Wood, erheben Missbrauchs-Vorwürfe gegen den Rockmusiker Marilyn Manson. Versteckt hat der selbst ernannte «Antichrist Superstar» seine Dämonen nie.«

»Wie man NICHT über das Thema sexualisierte Gewalt schreiben sollte, Teil 37842900000000.... Hey, @derspiegel, ändert ihr das noch? Oder sind ‚Dämonen‘ ab jetzt immer die ‚eigentlichen‘ Täter?«, twitterte die Autorin Katharina Nocun mit Verweis auf einen Kommentar der Autorin Annika Brockschmidt. Sie hatte bereits zuvor unter dem Tweet zum Artikel gefragt: »‘Dämonen‘? Hackt’s eigentlich?« Der Spiegel reagierte und passte den Teaser im Text an. Den Tweet wolle man »aus Gründen der Transparenz« und »auch damit die Antworten nicht verloren gehen« online stehen lassen.

Wer hinter der Bezahlschranke weiterliest, muss allerdings feststellen: Es war nicht nur der Teaser, der Gewalt verharmlost. »Für einige Frauen, die sich jetzt zu Wort melden, scheint das Chaos, das Manson nach eigener Aussage verkörpert, jedoch allzu real«, heißt es wenige Absätze später. Chaos? Das mag in einer beliebigen heterosexuellen Beziehung vielleicht die rumliegende dreckige Wäsche des Partners sein, aber niemals Missbrauch und psychischer Terror. Genau dem jedoch beschuldigen mehrere Frauen den Musiker.

Manson bestreitet dies und redet von »schrecklichen Verzerrungen der Realität«. Es habe stets Einvernehmlichkeit bei seinen intimen Beziehungen gegeben. Ob es tatsächlich zu Straftaten kam, müssen am Ende Gerichte feststellen. Klar ist aber auch, dass der Großteil der Täter sexualisierter Gewalt niemals verurteilt werden. Und: dass in einer patriarchalen Welt Gewalt, Machtmissbrauch und toxische Männlichkeit als ziemlich normal gelten. »Frauen verachten, sie zu quälen, mit sexualisierter Gewalt zu demütigen und sie sogar zu töten, ist im Patriarchat so normal wie mit den Kumpels Bier trinken gehen. Euer Scheiß normales Männerleben ist nicht dämonisch, es ist einfach das, was ihr ganz geil findet, Pop-Redakteure«, schreibt Christina Dongowski auf Twitter in Reaktion auf den Artikel.

Die Kritik deutet bereits an, was Berit Glanz in einem anderen Tweet konkretisiert: »Es gibt viele Frauen, die sexualisierte Gewalt erfahren haben. Diese Frauen lesen Texte über Täter. Sie lesen, wie Sympathie verteilt wird, welche rhetorischen Muster und Entschuldigungsfiguren immer wieder auftauchen. Wer Texte zu diesem Thema schreibt, hat eine Verantwortung.« Dazu gehört auch, gewalttätige Kunstschaffende nicht mit einer »Genie und Wahnsinn«-Kausalität zu verklären. Vor allem bedeutet es, Gewalt gegen Frauen und sexualisierte Gewalt als solche zu benennen. Nicht als Chaos, nicht als Beziehungs- oder Familiendrama. Gewalt gegen Frauen geht nicht von einigen wenigen, »dämonisierten« Männern aus. Es ist ein strukturelles Problem.

Und was verharmlost, wem geglaubt und wer hinterfragt wird, hat Auswirkungen auf die Entscheidungen jeder einzelnen Person, die sexualisierte Gewalt erleben musste und vor der schwierigen Entscheidung steht: Spreche ich darüber? Wehre ich mich? Zeige ich an?

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