EU und Nato laufen nicht im Gleichschritt

Neue Bedrohungsanalyse soll Grundlage werden für eine europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik

  • René Heilig
  • Lesedauer: 4 Min.

Seit 2004 hält die Europäische Union Krisenreaktionskräfte vor, sogenannte Battlegroups. Die jeweils zwischen 1500 und 2500 Soldatinnen und Soldaten sollen weltweit das Schlimmste verhindern helfen, am besten im Auftrag der Uno. Soweit die Theorie. Obwohl es weltweit jede Menge Krisen gibt und die Uno einen chronischen Mangel an verwendungsfähigen Blauhelmen-Soldaten beklagt, wurden die EU-Kampftruppen noch nie eingesetzt.

Viele mit linker Weltsicht mögen das begrüßen, doch die Arbeitslosigkeit der Truppe ist keineswegs einer starken Friedensbewegung geschuldet, sondern dem Fehlen einer EU-Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Das soll sich (wieder einmal) ändern. Bis März 2022 will die EU einen »strategischen Kompass« vorlegen, versprach EU-Ratschef Charles Michel kürzlich zum Abschluss eines Gipfels der Staats- und Regierungschefs. Zu klären ist dabei nicht nur, ob, wie, wo und wann die EU selbst als Militärmacht auftreten will und kann. Es geht auch darum, das Verhältnis zur Nato auf eine tragfähige Grundlage zu stellen.

Ausgangspunkt des neuen EU-Kompasses ist eine Ende 2020 fertiggestellte Bedrohungsanalyse. Sie ist geheim und basiert auf nationalen Analysen, die vom Europäischen Auswärtigen Dienst, dem De-facto-Nachrichtendienst der EU, verdichtet wurden. Sicher ist, dass man dabei Russland und China eine besondere Rolle zugewiesen hat.

Die beiden Mächte sind auch der Widerpart in den strategischen Überlegungen der USA und der anderen Nato-Mitgliedsstaaten. Daher sei die Zusammenarbeit mit der EU doch allenfalls eine organisatorische Frage, suggerieren Nato-Spitzenkreise. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg macht schlicht geltend, dass über 90 Prozent der EU-Bürger ohnehin einem Nato-Mitgliedsstaat angehören.

Derartigen Argumenten mag vor allem die Regierung in Paris nicht folgen. Frankreich setzt sich dafür ein, dass EU-Europa auf lange Sicht auch in Sicherheitsfragen unabhängig agieren kann. Präsident Emmanuel Macron nutzte die Zerwürfnisse zwischen europäischen Nato-Staaten und der US-Regierung unter Trump, um seine Idee einer »strategischen Autonomie« Europas zu untermauern. Dass man dabei einen Führungsanspruch erhebt, ist kein Geheimnis. Obwohl Paris die Verfügungsgewalt über seine Atomwaffen nicht zur Debatte stellt, sind die nuklearen Killersysteme ein wichtiges Moment einer - wie auch immer gearteten - EU-Streitmacht. Wichtiger Nebeneffekt: Schon jetzt kann Frankreich die immensen Ausgaben für seine militärischen Operationen kaum alleine stemmen. Daher und um die technologische Entwicklung bei exportfähigen Waffensystemen zu fördern, will die Regierung in Paris mit der in Berlin gemeinsame Sache machen.

Deutschland gibt dem Werben nur teilweise nach. Berliner Strategen zweifeln daran, dass die EU eine vollständige und sicherheitspolitisch glaubhafte Autonomie erreichen kann, und verweisen auf Zahlen: Im vergangenen Jahr gaben die USA rund 785 Milliarden US-Dollar fürs Militär aus - die EU knapp 300 Milliarden US-Dollar.

Der Gleichschritt zwischen EU und Nato wird auch durch Irland, Schweden, Finnland und Malta behindert. Gerade weil diese nur kleine Staaten im EU-Verbund sind, sorgen sich diese um den neutralen Status. Das gilt ebenso für Österreich, das zwar mit der Nato im Rahmen der Partnerschaft für den Frieden verbunden ist, zugleich jedoch Wert legt auf die sicherheitspolitische Zusammenarbeit mit der Uno und der OSZE. Die Teilnahme an irgendwann denkbaren Kampfeinsätzen der EU könnte die außenpolitische Position Wiens als Mittler zwischen Ost und West erheblich belasten. Probleme zeigen sich auch im Verhältnis der EU mit dem Nato-Mitglied Türkei. Schließlich geht die Gemeinschaft nicht auf Abstand zu Ankara, um dann via Nato türkische Völker- und Menschenrechtsverletzungen zu akzeptieren.

Bei der Nato wie bei der EU muss man sich daran gewöhnen, dass die US-Machtpolitik gegenüber Verbündeten und Freunden künftig subtiler ausgeübt wird als unter Trump. Der empörte sich noch darüber, dass Nicht-EU-Staaten nur einen eingeschränkten Zugang zur 2017 gegründeten »Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit« - kurz Pesco - erhalten sollten. Die EU wies den Protest anfangs selbstbewusst zurück - um dann im November 2020 doch eine Öffnung zu verfügen. So will sich Washington jetzt an einem milliardenschweren Projekt zur Verbesserung von grenzüberschreitenden Truppen- und Materialtransporten in Europa beteiligen. Ein entsprechender Antrag liegt seit einigen Tagen im niederländischen Verteidigungsministerium vor, das ein entsprechendes Pesco-Projekt koordiniert. Auch Kanada und Norwegen meldeten Interesse an.

Das Vorhaben ist nur eines von aktuell 46 Pesco-Zielen, doch mit ihm macht sich die EU unentbehrlich für die Nato. Durch den Ausbau von Straßen, Brücken, Eisenbahnlinien sowie den Abbau grenzüberschreitender Bürokratie werden Truppen- und Materialtransporte erheblich beschleunigt. Davon profitieren vor allem die USA, die ihr in deutschen, niederländischen oder italienischen Häfen angelandetes Kriegsgerät demnächst noch rascher in Richtung Osten verlegen können.

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