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Finde dein Hackfleisch

Die Menschheit geht dem Ende entgegen. Zeit, kurz vor Schluss zurückzublicken auf das, was gar nicht so übel war.

  • Olga Hohmann
  • Lesedauer: 3 Min.

Die Sprache des Fleisches bleibt auf dem weiten Feld der Obsessionen ziemlich unschlagbar. Ein Kunstprofessor berichtete uns bei der Studieneinführung von einem Mann, der alle sieben Tage in den Supermarkt ging, um dort zehn Kilogramm rohes Hackfleisch zu kaufen. Dieses formte er dann zu Hause zu einem Menschenkörper. Was genau mit den Hackfleischkörpern bis zu ihrer Entsorgung nach einer Woche passierte, blieb unausgesprochen. Aber natürlich liegt es nahe, anzunehmen, dass sie in irgendeiner Form als Sexspielzeug herhalten mussten.

Für meinen Professor hatte die makabre Praktik des »Hackfleischmannes« aber vor allem einen metaphorischen Wert, den er zu pädagogischen Zwecken verwendete: Wenn wir - so seine (von einer Idee der Genieästhetik durchzogene) Parabel - unser Material als Künstler*innen nicht ebenso leidenschaftlich bearbeiteten wie der »Hackfleischmann« sein Hackfleisch, könnten wir es mit der Kunst »auch gleich ganz sein lassen«.

Es gibt wenig Sätze von meinen (damals ausschließlich männlichen) Professoren, die ich im Gedächtnis behalten habe. Aber der Imperativ »Finde dein Hackfleisch« hat sich nachhaltig eingebrannt. Ein anderer der häufig wiederholten Sätze ist ein von Heiner Müller kolportiertes Brecht-Zitat, das im Prinzip dieselbe Aussage hat: »Talent ist Interesse.« Ab und zu habe ich tatsächlich das Gefühl, dass mir die Aufrichtigkeit gegenüber meiner eigenen Obsession abhandenkommt - dann denke ich an den »Hackfleischmann«, und er weist mir sanft die Richtung meines Begehrens.

Wahrscheinlich aber hat Heiner Müller (mal wieder) recht und es gibt zwei Arten von Künstler*innen: diejenigen, die weitermachen, obwohl es unendlich viele Gründe dafür gibt, aufzuhören, und diejenigen, die nicht weitermachen. Für erstere empfinde ich per se staunenden Respekt - so sehr, dass ich oft unkritisch gegenüber den konkreten Resultaten ihres künstlerischen Schaffens bin. Die Empfehlung »Weitermachen!« bekam ich auch neulich bei einem Spaziergang über den Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin-Mitte: Sie steht, als einziges Wort, auf Herbert Marcuses Grabstein - außer seinem Namen. Es scheint so, als hätte sie auch noch nach dem Tod ihre Gültigkeit.

In jedem aufrichtig hingebungsvollen Akt gibt es auch immer einen abstoßenden Anteil. Dieses widersprüchliche Phänomen war mir schon auf meinem Schulhof begegnet - und auch damals hatte es mit Hackfleisch zu tun. In meinen Abiturjahrgang kam ein neuer Schüler, der (aus uns unbekannten Gründen) ein anderes Gymnasium trotz seiner guten Noten hatte verlassen müssen. Er unterschied sich, Kaschmirpullover und hellblaue Hemden tragend, schon auf den ersten Blick von meinen Mitschüler*innen und mir.

Eine Woche nachdem er bei uns aufgetaucht war, lud er uns zu ein, einer selbst auferlegten Mutprobe beizuwohnen: Vor den Augen aller verschlang er, vor dem Haupteingang der Schule stehend, zwei Maxi-Packungen rohes Hackfleisch der Marke »JA!«. Nur zweimal musste er absetzen, weil er von seinem Würgereflex überwältigt wurde - den er dann aber mit erstaunlicher Virtuosität kontrollierte.

Wir (die meisten von uns Veganer*innen) schmunzelten, halb entsetzt und halb beeindruckt, in unsere Club-Mate-Flaschen. Letztlich war es der Ekel selbst, der die Lächerlichkeit dieser Aktion in ein respektables Licht rückte - wer von uns Systemkritiker*innen hatte schon einmal etwas so unnötig Grenzüberschreitendes getan?

Voller verwirrter Anerkennung nahmen wir den neuen Schüler in unseren Kreis auf - er hatte mit seiner Performance sein Ziel erreicht. Wenige Wochen später schon war er derjenige, der die meisten Joints rauchte, nach einem halben Jahr war er unser Dealer. Das Obsessive hatte sich seinen Weg gesucht. Kaschmirpullover über hellblauen Hemden trug er immer noch.

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