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Oben angekommen

Der Belgier Jasper Stuyven gewinnt überraschend den italienischen Frühjahrsklassiker Mailand-Sanremo

  • Tom Mustroph, Sanremo
  • Lesedauer: 4 Min.

»Ich trete nicht bei einem Rennen an, um Vierter zu werden«, sagte Stuyven voller Selbstbewusstsein im Ziel nach seinem größten Triumph. »Gut, ich habe meinen Trophäenschrank bisher eher langsam gefüllt«, meinte er. Tatsächlich zählt das Radsportportal Procyclingstats bisher lediglich acht Siege. Zwei Halbklassiker sind darunter, auch ein Etappensieg bei der Vuelta a España sowie die Gesamtwertung der Deutschland Tour 2019. »Aber ich habe auch bei einigen Klassikern schon gute Leistungen gezeigt. Und ganz ehrlich, mir ist ein großer Sieg lieber als viele zweite und dritte Plätze und ansonsten nichts«, meinte er.

Alles auf eine Karte setzte der Belgier auch beim Klassiker in Sanremo. »Schon bei der Abfahrt vom Poggio habe ich mir gedacht, dass ich gleich unten attackieren muss. Es waren ein paar schnelle Jungs dabei, gegen die ich keine Chance hatte«, spielte er auf den überraschend bergfesten Sprinter Caleb Ewan (Australien) - am Ende Zweiter - und den wieder erstarkten Peter Sagan (Slowakei) an, der Vierter wurde.

Stuyven profitierte auch davon, dass die ganz großen Favoriten in ihre Pokerspiele vertieft waren. Weder der französische Weltmeister Julian Alaphilippe, der die Beschleunigung am Poggio zunächst initiiert hatte, noch die in dieser Saison bisher überragenden Cyclocross-Fahrer Wout van Aert (Belgien) und Mathieu van der Poel (Niederlande) wollten Kraft in die Verfolgung investieren. »Es war ein Fehler«, gab van Aert später zu. Allerdings steckten die drei auch in einem Dilemma. »Klar ist bei den Finals von Sanremo auch, dass der, der auf den letzten Kilometern die Verfolgung beginnt und Ausreißer zurückholt, so viel Kraft verbraucht, dass er am Ende garantiert nicht gewinnt«, erläuterte Stuyven das Szenario hinter ihm. Er konnte munter analysieren, denn er hatte die anderen ja erst in diese Bredouille gebracht.

»Im Eins-zu-Eins ist jeder dieser drei sicherlich stärker als ich. Aber bei Radrennen gewinnt nicht immer der Stärkste«, steuerte er eine weitere Branchenweisheit bei.

Diese Weisheit hatte zuvor auch für Optimismus beim Team Bora hansgrohe gesorgt. »Ich fahre nicht zu Rennen, um Vierter zu werden, nur weil drei Fahrer eine ganz besondere Klasse haben«, so Sprinter Pascal Ackermann aus Kandel gegenüber »nd«. Der Sanremo-Debütant schlug sich prächtig, passierte als 20. die Ziellinie, in der sechs Sekunden zurückliegenden Verfolgergruppe. Ackermann haderte ein wenig damit, bei den Positionskämpfen am Poggio zu wenig Kraft investiert zu haben. »Hätte ich gewusst, dass ich so weit vorn rein komme, hätte ich da mehr gegeben«, sagte er nachher. Aber aus Fehlern lerne man.

Teamkollege Maximilian Schachmann aus Berlin wurde, ebenfalls bei seinem Sanremo-Debüt, guter 14. Bester Bora-Fahrer war Peter Sagan, der damit bereits seine fünfte »Holzmedaille« bei dem Klassiker errang. Angesichts seiner Corona-Infektion vor ein paar Wochen war es aber dennoch herausragend.

Während ihre Profis im Finale nicht die erste Geige spielten, lieferten sich die Chefs von Bora und Deceuninck Quick Step ein ganz spezielles Fernduell. Patrick Lefevere, Boss des hoch gelobten Weltmeisters Julian Alaphilippe, der hinter Schachmann 16. wurde, hatte gegenüber belgischen Journalisten über Bora-Teamchef Ralph Denk gelästert. Denk habe ihm erst sehr anrührende Geschichten über seinen Werdegang vom Radschrauber zum Teamboss erzählt, lästerte der Belgier. Dann aber hätte Denk angeboten, ihm seinen ganzen Rennstall abzukaufen, meinte Lefevere. Der Belgier kritisierte das als hässliches Verhalten eines Emporkömmlings. Denk war teils belustigt, teils verärgert über die Episode: »Es stimmt, wir haben uns getroffen. Dabei ging es aber nicht um das Team von Patrick. Ich habe schon ein Team. Und ein zweites Team darf man nach den UCI-Regularien sowieso nicht haben«, stellte der Bayer richtig. Allerdings sei er an Deceunincks belgischem Supertalent Remco Evenepoel natürlich interessiert. Um dessen Zukunft sei es gegangen. »Ich war dabei so höflich, dass ich erst Patrick gefragt habe und nicht den direkten Weg zu Remco suchte«, verriet Denk dem »nd«.

Evenepoel wird ein ähnliches Potenzial wie van der Poel und van Aert zugeschrieben. Dass Potenzial nicht automatisch Siege bringt, machte an diesem Samstag allerdings Außenseiter Stuyven deutlich. Auch weniger Geld gewinnt noch Rennen - das unterscheidet den Radsport noch vom Fußball.

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