Selbstzufriedene Überwacher

Die Summe der staatlichen Datenerhebungen besorgt Datenschützer*innen und Opposition

Ein Bier macht noch niemanden zum Alkoholiker. Doch wenn der Biergenuss täglich stattfindet, beginnen die Diskussionen. In welchem Umfang Alkohol unbedenklich bleibt, daran scheiden sich die Geister. Eine ähnliche Diskussion gibt es rund um die staatlichen Datenerfassungen, wie jetzt die Antwort auf eine schriftliche Anfrage von Anke Domscheit-Berg zeigt, die für die Linksfraktion im Bundestag Digitalthemen bearbeitet. Sie wollte vom Bundesinnenministerium wissen, ob die Bundesregierung künftig eine »Überwachungsgesamtrechnung« veröffentlichen wolle. Damit soll ein Überblick entstehen, wie viel staatlicher Überwachung die Bürger*innen insgesamt ausgesetzt sind.

Die Antwort ist wenig zufriedenstellend. Domscheit-Berg bezeichnet sie als »Schlag ins Gesicht der Demokratie«. Für das Innenministerium antwortete stellvertretend Staatssekretär Hans-Georg Engelke, in dessen beruflicher Laufbahn es zahlreiche Kontakte mit staatlichen Datensammlungen und Grundrechtseingriffen bei Verfassungsschutz und im Rahmen der Terrorbekämpfung gab. Engelke führt aus, dass die Bundesregierung den Anforderungen »insgesamt Rechnung« trage, was die Verhältnismäßigkeit bei Eingriffen angehe. Damit weist er auch Kritik zurück, die vom Bundesverfassungsgericht bereits 2010 im Urteil gegen die Vorratsdatenspeicherung geäußert wurde. Die Bundesregierung prüfe jedes einzelne Gesetz darauf, ob ein verhältnismäßiger Eingriff in Grundrechte stattfinde. Um im Bild des Alkoholkonsums zu bleiben: Jedes einzelne Bier sei in Ordnung.

Immer wieder geriet die Bundesregierung in den letzten Jahren in die Kritik, an zu vielen Stellen zu viele Daten über die Bürger*innen zu erheben. Besonders laut wurde die Kritik bei Maßnahmen, wie der Online-Durchsuchung mit Hilfe von Staatstrojanern oder bei der Vorratsdatenspeicherung. Zuletzt sorgte eine einheitliche Steueridentifikationsnummer für Kritik, auf die neben dem Finanzamt noch 50 weitere Institutionen - von Einwohnermeldeamt bis Krankenkasse - Zugriff erhalten sollten. Auch das BND-Gesetz, das Überwachung im Inland quasi legitimiert hat, wenn sich der BND nur eine passende Begründung ausdenkt, erhöht die Anzahl an Stellen, an denen Daten von Bürger*innen in die Überwachung gelangen, enorm.

Um die Einschätzung Engelkes nachvollziehen zu können, fehle es jedoch an Informationen, wie das Innenministerium geprüft hat, kritisiert Domscheit-Berg. Der Staat müsse sich bewusst sein, wie viel Überwachung insgesamt auf den Bürger*innen lastet: »Diese Evaluationen müssen transparent für jeden einsehbar sein und wissenschaftlich unabhängig begleitet werden, statt heimlich im Hinterzimmer - fernab jeglicher Öffentlichkeit.« Engelke sieht die Überwachungsgesamtrechnung als ein »eigenständiges Konzept« an. Es müsse zunächst geprüft werden, wie dieses Konzept zur Grundrechtsprüfung passe, die ohnehin vorgenommen werde. Auch komme die Bundesregierung ihren Informationspflichten nach, wenn periodisch beispielsweise über Wohnraumüberwachungsmaßnahmen berichtet werde.

Weil aber durch diese zerfaserten Einzelberichte kein Überblick entstehen könne und die informierten Gremien oft nur im geheimen tagen, fordert Domscheit-Berg ein Moratorium für neue Überwachungsgesetze: »Es braucht endlich einen vollumfänglichen Überblick über die Notwendigkeit und Effektivität staatlicher Grundrechtseingriffe, die Polizei und Geheimdienste tagtäglich durchführen. Und zwar bevor neue Überwachungsgesetze beschlossen werden.« Sie steht mit dieser Empfehlung auf der Seite des Bundesbeauftragten für Datenschutz und Informationsfreiheit, Ulrich Kelber, der in seinem Ende März veröffentlichten Tätigkeitsbericht bezüglich eines Moratoriums bei den Sicherheitsgesetzen nüchtern konstatierte: »Diese Empfehlung wurde bisher nicht aufgegriffen.«

Nicht nur gänzlich neue Gesetze wären davon betroffen, sondern auch weiterentwickelte Gesetze, wie das IT-Sicherheitsgesetz. Die Bundesregierung vertritt die Ansicht, man könne auf die eventuellen »unbeabsichtigten Nebenwirkungen« im Rahmen der Evaluation aufmerksam werden und dabei auch die Akzeptanz der Regelungen prüfen. »Die Behauptung, man evaluiere ja existierende Gesetze, ist frech, da die Bundesregierung wiederholt selbst in Gesetzen vorgeschriebene Evaluationen einfach nicht vornimmt«, ordnet Domscheit-Berg ein. Es bleibe intransparent, was die Regelungen überhaupt gebracht hätten und ob der Nutzen die Eingriffe in die Grundrechte der Bürger*innen überhaupt rechtfertige. »Dass dieser Nachweis bei Überwachungsgesetzen zu erbringen ist, hat jedoch auch der EuGH im letzten Jahr eingefordert. Diese Bundesregierung setzt sich einfach über bestehende Rechtsprechung hinweg«, sagt Domscheit-Berg.

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