Übermächtige Tanten

Hinter der Fassade: Anja Röhl über «Das Elend der Verschickungskinder»

  • Mira Landwehr
  • Lesedauer: 5 Min.

Meine Pädagogik ist hart. Das Schwache muss weggehämmert werden … Eine gewalttätige, herrische, unerschrockene, grausame Jugend will ich … Schmerzen muss sie ertragen. Es darf nichts Schwaches und Zärtliches an ihr sein … Beherrschung müssen sie lernen. Sie sollen mir in den schwierigsten Proben die Todesfurcht besiegen lernen …«

So kennzeichnete Adolf Hitler das Ziel nationalsozialistischer Erziehungsarbeit. Die damit aufwuchsen bzw. ihre ersten beruflichen Erfahrungen sammelten, stellten den Großteil derjenigen, die nach 1945 wiederum in Kinderheimen, in Kinder- und Jugendpsychiatrien und in Kindererholungsheimen in ganz (West)Deutschland als Ärzt*innen, Pflegekräfte und Erzieher*innen tätig waren. Über die sogenannten Verschickungskinder, die von Hausärzt*innen und Krankenkassen seit den 50er Jahren bis in die 90er Jahre zu Millionen auf mehrwöchige, teils auch mehrmonatige Kuren an die See oder in die Berge »verschickt« worden sind, hat die Sonderpädagogin Anja Röhl ein wichtiges Buch vorgelegt.

Die Autorin schreibt aus Betroffenenperspektive, denn sie wurde als Kind ebenfalls zu einer sechswöchigen Kur auf die nordfriesische Insel Föhr verschickt - sie veröffentlichte ihre traumatischen Erlebnisse vor zwei Jahren auf ihrem Blog und erhielt daraufhin unerwartet viele Berichte von anderen Verschickungskindern, die ihre Erfahrungen teilten. Bald zeichnete sich ab: Die rigiden Strafen und die Erziehung durch Angst in den Kurheimen waren keine Einzelfälle. Stattdessen wiesen diese Berichte aus allen Landesteilen darauf hin, dass es sich um systematische Gewalt handelte. Knapp die Hälfte des Buches widmet Röhl daher den Berichten der Verschickten, von denen viele bis heute unter schweren Traumata leiden.

Wie so oft blieben die meisten Täter*innen verschont, viele der Verantwortlichen sind inzwischen gestorben. Es ist Zeit, den Opfern zuzuhören. Viele von ihnen legen öffentlich Zeugnis ab, auf der Seite Verschickungsheime.de, die Röhl gemeinsam mit anderen Betroffenen eingerichtet hat.

Erbrochenes essen, Kaltwasserbehandlungen, Anbinden am Stuhl, zur Strafe stehen oder knien bis zur Ohnmacht, Isolation, Schläge, Wasserentzug, Salzwasser trinken, Verweigerung des Toilettengangs, öffentliche Demütigungen. Das sind nur einige der regelmäßigen und teils von führenden Medizinern propagierten Strafen für die internierten Kinder, die meisten von ihnen im Vorschulalter, also gerade einmal vier oder fünf Jahre alt.

Röhl charakterisiert diese abgeschlossenen Orte der permanenten physischen und psychischen Gewalt als »systematisches Verbrechen«. Betroffene berichten über schwerwiegende Langzeitfolgen wie Essstörungen, Angststörungen, Störungen des Sozial- und Beziehungsverhaltens.

Zudem fand eine Briefzensur statt, wie dies in Institutionen wie Gefängnissen zur Praxis gehört. Nur positive Nachrichten sollten nach außen dringen.

Die Fassade war notwendig, da die Verschickungsheime ein wesentlicher Wirtschafts- und Wiederaufbaufaktor für viele Kurorte waren, denn Erwachsenentourismus gab es nach dem verlorenen Zweiten Weltkrieg vorerst nicht.

Die Krankenkassen der BRD waren verpflichtet, den Heimen Kinder zuzuführen - und sie konnten verklagt werden (und wurden es auch), wenn sie zu wenige schickten. »Die Diagnosen wurden entsprechend angepasst«, konstatiert Röhl. Denn Ärzt*innen und Kassen schickten sehr bald nicht nur asthmatische oder Tbc-kranke Kinder auf Kur, sondern möglichst viele - eine regelrechte »Kindererholungsindustrie« war etabliert.

Die Kuraufenthalte hatten folglich nichts mit Kindeswohl oder Erholung zu tun, sondern dienten dem Profit. Das Mittel zum Zweck: militärischer Drill und Verformung von Kinderkörpern zu willenlosen Apparaten, die nach der Uhr zu funktionieren hatten, sowie willkürliche Strafen, die in erster Linie auf kaum kontrollierbare Vitalfunktionen fokussierten.

Die Verschickungsheime litten von Anfang an unter permanentem Personalmangel und zu wenig Fachpersonal bei gleichzeitiger Überbelegung vor allem in den Sommermonaten. Auch das ist von zahlreichen anderen Heimunterbringungen bekannt. Die Lösung war so einfach wie brutal: Lasst die Kinder und Jugendlichen selbst für »Ordnung« sorgen. Denn geprügelt und geschlagen wurde auch untereinander. Solidarität hätte womöglich zu Aufständen geführt und wurde so unterbunden. Röhl und ihre Initiative haben Belege für vier Todesfälle während solcher Kuraufenthalte. Es ist zu vermuten, dass es weitere gab. In einem Fall prügelte ein Sechsjähriger solange auf einen Vierjährigen ein, bis dieser nicht mehr atmete.

Die zumeist weiblichen Pflegekräfte, die sich selbst als »Tanten« titulierten, hetzten mitunter Kinder auf- und gegeneinander. Eine Maßnahme, die einige von ihnen während des Dienstes für HJ und BDM, etwa bei der »erweiterten Kinderlandverschickung« in den letzten Kriegsjahren, kennengelernt haben dürften. Sie hatten gelernt, Schwäche zu bestrafen und »unwertes« Leben zu verachten - und zu vernichten. Die Erziehung zu Härte gegen sich und andere setzte sich fort.

Personelle Kontinuitäten scheint es außerdem aus dem Bereich der »Euthanasie« und möglicherweise aus Konzentrationslagern und Zuchthäusern gegeben zu haben. Dies erkläre, warum viele der »Tanten« emotional völlig kalt auf die Kinder wirkten und niemals ein freundliches Wort fanden. Eine Betroffene erinnert sich: »Die Tanten waren groß und übermächtig.«

In manchen Heimen war es üblich, die Kinder ausschließlich mit Nummern anzusprechen. Für Individualität war kein Raum, und persönliche Gegenstände wie Stofftiere oder mitgebrachte Süßigkeiten nahmen die »Tanten« ihren Zöglingen häufig weg, um ihnen Demut einzutrichtern. Das »Verbrechen« der Kinder: Sie waren lebendig. Das nahmen manche der ehemaligen NS-Fürsorgeschwestern ihnen übel bis auf den Tod.

Anja Röhl: Das Elend der Verschickungskinder. Kindererholungsheime als Orte der Gewalt. Psychosozial-Verlag, 305 S., br., 29,90 €.

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