Opfer zu Tätern gemacht

Corona-Kontrollen der Polizei eskalieren in Berliner Parkanlagen

  • Philippe Pernot
  • Lesedauer: 6 Min.

Am Mittwoch vor Ostern scheint die Sonne über Berlin. Den 16-jährigen Ali (Name geändert) zieht es wie viele andere junge Menschen nach draußen. Sie wollen nach dem langen Corona-Winter mit all seinen Einschränkungen etwas durchatmen. Ali trifft sich mit Freunden im Park am Gleisdreieck zwischen Kreuzberg und Schöneberg. Hier ist viel los. Hunderte weitere Berliner*innen haben dieselbe Idee gehabt wie er. Nach Einbruch der Dämmerung rücken immer mehr Polizist*innen an. Sie kontrollieren, ob die zumeist jungen Menschen die Corona-Regeln einhalten.

Dann kommt es zur Eskalation. »Als es mir zu viel wurde, bin ich zu einer ruhigeren Ecke gegangen«, erinnert sich Ali. »Eigentlich wollten die Polizisten mit dem Streifenwagen den Menschen nur Angst machen, damit sich die Gruppen von selbst auflösen. Doch es war zu spät und es waren schon zu viele Menschen da«, erzählt er. Die Polizei räumt den Park. Jugendliche, die zur U-Bahn-Station Gleisdreieck fliehen wollen, benutzen eine Dixi-Toilette als Barrikade. Einige werfen Flaschen in Richtung der Polizist*innen. Die Beamt*innen liefern sich mit den Jugendlichen eine Verfolgungsjagd durch die U-Bahn-Station.

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Am folgenden Tag verschärft die Polizei ihre Kontrollen. Dabei werden die Beamt*innen angegriffen. Eine Person besprüht sie mit einem Feuerlöscher. Das ist der Auftakt für neue Auseinandersetzungen. Mehrere Beamt*innen werden an diesen Tagen leicht verletzt. Am Karfreitag kreist sogar ein Hubschrauber der Polizei über dem Gleisdreieckpark. Die Beamt*innen nehmen wegen mutmaßlicher Verletzung der Hygiene- und Abstandsregeln die Personalien von jungen Menschen im Park auf. Insgesamt werden mindestens vier Jugendliche festgenommen.

Die Berliner Polizei vermeldet: »Die Ermittlungen, unter anderem wegen schweren Landfriedensbruchs, Missbrauch von Nothilfemitteln, tätlichen Angriffs und Beleidigung dauern an. Zudem wurden Ordnungswidrigkeitenanzeigen wegen Verstößen gegen die Infektionsschutzmaßnahmenverordnung gefertigt.« Auf einer Interviewanfrage bekommt das »nd« keine Antwort.

Betroffene Jugendliche sind auskunftsfreudiger. »Sie müssen verstehen, dass wir schon vor der Pandemie mehrere Mal pro Woche von der Polizei angehalten wurden, nur weil wir im Park sitzen oder spazieren und nicht vornehm genug angezogen sind«, berichtet Ali. Er fühlt sich als junger Mann mit Migrationshintergrund von der Polizei diskriminiert. »Deswegen haben die anderen Jugendlichen so heftig reagiert, auf jeden Fall. Nicht jeder kann nach der tausendsten Kontrolle noch respektvoll wie ich reagieren. Eigentlich muss man als Polizist auch dafür Verständnis haben«, meint er.

Diese Perspektive wirft ein anderes Licht auf die Auseinandersetzungen als die Berichterstattung in zahlreichen Medien. »Randale am Gleisdreieck«, »Polizisten von 100 Jugendlichen angegriffen«, »Jugendliche rebellieren gegen Corona-Ausgangsbeschränkungen«, »2500 Menschen in Berliner Park« - kurz vor Ostern dominieren alarmistische Schlagzeilen. Robin Celikates, Professor für Sozialphilosophie an der Freien Universität Berlin und Co-Direktor des Zentrums für Geisteswissenschaften und gesellschaftlichen Wandel in Berlin, kann über eine solche Berichterstattung nur den Kopf schütteln. Im Gespräch mit dem »nd« widerlegt er die Schlagzeilen, die Jugendliche als Aggressoren darstellen. »Tatsächlich sind sie nicht einfach Randalierer, die von vornherein Lust hatten, sich mit der Polizei zu streiten. Es gibt bestimmte Dynamiken, wieso Polizeikontrollen häufig eskalieren«, erklärt Celikates. Als ersten Grund nennt er »Racial Profiling«. »Junge Menschen, denen ein Migrationshintergrund zugeschrieben wird, werden viel öfter kontrolliert«, konstatiert der Professor. Es existieren hierzu keine offiziellen Statistiken, weil eine geplante Studie im Juni 2020 von Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) abgesagt worden ist. Bekannt ist nur, dass die Zahl der anlasslosen Kontrollen durch die Bundespolizei im vergangenen Jahr um 39 Prozent im Vergleich zum Vorjahr auf fast drei Millionen angestiegen ist.

»Diese Kontrollen haben mit der Pandemie zugenommen wegen der Einhaltung der Corona-Regeln«, warnt Robin Celikates. Die Polizei würde Menschen, die sie als Ausländer wahrnimmt, wegen Hygiene- und Abstandsregeln öfter kontrollieren als andere. Dabei seien sie wegen der Pandemie gesundheitlich besonders gefährdet. »Man stellt einen Zusammenhang zwischen Migrationshintergrund, sozio-ökonomischem Status und Infektionen fest, da der Wohnraum oft viel enger und die Arbeit viel gesundheitsgefährdender ist«, erklärt der FU-Professor. Aus seiner Sicht werden »die Opfer beschuldigt«.

Ali bestätigt diese Analyse. Er wohnt im unterprivilegierten Teil von Berlin-Schöneberg. »Weil alles so eingeengt ist, ist es schwierig, sich an allen Regeln zu halten«, sagt er. Wo sollen benachteiligte Jugendliche wie er hin, wenn nicht auf Grünflächen, wie sie der beliebte Gleisdreieckpark bietet? Der Spaziergang im Park sei der letzte Weg, um gesund zu bleiben. »Wir brauchen unsere frische Luft«, beteuert der 16-Jährige. »Viele leiden sonst an psychischen Problemen, an häuslicher Gewalt, und drehen durch, wenn sie nicht raus können«, fügt er hinzu.

Das ist nicht aus der Luft gegriffen. Eine im März veröffentlichte Studie der Bertelsmann-Stiftung belegt, dass sich viele junge Menschen seit Beginn der Coronakrise psychisch besonders belastet oder zumindest teilweise belastet fühlen. Das geben rund 64 Prozent der Befragten an. Klar wird in der Studie auch, dass sich 65 Prozent der Jugendlichen nicht ausreichend wahrgenommen fühlen. Sie vermissen die Möglichkeit, sich politisch einzubringen und zu beteiligen. Die immer häufigeren Polizeikontrollen wirken da als Funken, die das Ungerechtigkeitsgefühl zum Explodieren bringen. »Diese Jugendlichen sind nicht per se aggressiver als andere. Aber wenn man ihnen ihren letzten Zufluchtsort wegnimmt, dann kann das verständlicherweise zu bestimmen Überreaktionen führen«, bestätigt Robin Celikates.

Nicht nur in Deutschland kommt es vermehrt zu Auseinandersetzungen zwischen jungen Menschen und der Polizei. Auch im Nachbarland Frankreich wird über Repressionen berichtet. Anlässe hierfür sind »Rave Partys«. Die französische Polizei ist bereits vor der Coronakrise wegen ihres zum Teil brutalen Vorgehens gegen feiernde junge Menschen in die Kritik geraten. Im Sommer 2019 rückt sie in Nantes an, um eine angeblich zu laute Party aufzulösen. Tränengas und Schlagstöcke werden eingesetzt. Während dieses gewaltvollen Polizeieinsatzes bei der Fête de la Musique ertrinkt der junge Erzieher Steve Caniço in der Loire.

Heute stockt die Ermittlung, in der die französischen Einsatzpolizist*innen wegen unabsichtlicher Tötung beschuldigt sind. In einem Kontext von massiver Polizeigewalt und von repressiven Maßnahmen wie das neue Sicherheitsgesetz, das in den nächsten Wochen von der Nationalversammlung verabschiedet werden soll, kommt es regelmäßig zu Gewaltausbrüchen bei Jugendlichen aus benachteiligten Vierteln, während Demonstrationen und Partys.

Der Ton von französischen Spitzenpolitiker*innen gegenüber sozial Benachteiligten ist zuweilen polemisch. Im Sommer 2020 bezeichnet Innenminister Gérald Darmanin Jugendliche in den Banlieues als »verwildert«. Anlässe für die Äußerung des Politikers, der Mitglied der Partei La République en Marche von Staatspräsident Emmanuel Macron ist, sind die vermeintlich zunehmende Aggressivität und Kriminalität der Jugend. Kurz danach werden diese Behauptungen aber von Studien und Faktenchecks widerlegt.

Es ist offensichtlich, dass die französische Regierung auf polizeiliche Repression und den Rahmen der Terrorbekämpfung setzt, um die Jugend im Griff zu halten. Ob das in Deutschland auch zunehmend der Fall sein wird, ist offen. Für Robin Celikates dient der Vergleich mit Frankreich als abschreckendes Beispiel. »Deutschland ist zum Glück weniger ghettoisiert. Die Städte hierzulande sind durchmischter als in Frankreich. Aber die Repression wird stärker. Wir müssen aufpassen, dass es nicht in dieselbe Richtung geht«, warnt er. Der Professor untersucht, wie marginalisierte Wohnräume zum Labor für eine solidarischere Gesellschaft werden könnten. Der Sozialwissenschaftler fordert: »Dafür muss die Politik proaktiv reagieren, um eine soziale Katastrophe zu verhindern. Sie kann nicht weiterhin die Betroffenen beschuldigen, sondern muss ihnen klare Angebote machen. Wenn man Schulen, Bars, Kinos und Klubs schließt, dann muss man der Jugend eine Alternative anbieten.«

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