Geraubt

Feministische Filmkunst aus Kasachstan: Das »GoEast«-Festival

  • Norma Schneider
  • Lesedauer: 4 Min.

Bereits zum zweiten Mal präsentiert sich das Wiesbadener »GoEast«-Filmfestival digital. Wie jedes Jahr werden auch 2021 neue Entdeckungen und vergessene Klassiker aus Ost- und Mitteleuropa gezeigt. Nur steht diesmal eine Region im Fokus, die nicht zu Osteuropa gehört, aber ebenso auf eine sowjetische Geschichte zurückblickt: Zentralasien. Diskussionsrunden, Vorträge und Filme widmen sich dem Kino in Kasachstan, Kirgistan, Usbekistan, Tadschikistan und Turkmenistan.

Diese Länder mit den heutigen Grenzen gibt es erst seit etwa hundert Jahren, als aus den Gebieten, in denen Menschen verschiedener ethnischer und religiöser Zugehörigkeit lebten, Sowjetrepubliken gebildet wurden. Die ersten Filme, die in der Region entstanden, waren sowjetische, die Drehbücher und Produktionsteams kamen aus Moskau. Anfangs waren das vor allem Dokumentarfilme über die Kultur und Landschaft der neuen Republiken, die der Völkerfreundschaft innerhalb der Sowjetunion dienen sollten. In Taschkent wurde 1925 das erste Filmstudio Zentralasiens gegründet. Die Filme, die dort gedreht wurden, sollten den Menschen in der Region die sowjetischen Werte näherbringen. Modernität sollte Tradition verdrängen und das Kino als erzieherische Maßnahme dienen. Im Zentrum dieser Kampagne stand auch die »Frauenfrage«, wie die usbekische Filmkritikerin Nigora Karimova beim »GoEast«-Symposium berichtet: Die Filme zeigen starke, emanzipierte Frauen, die das traditionelle häusliche Leben hinter sich lassen, den Schleier ablegen und Arbeiterinnen werden.

Mit der Rolle der Frau in Zentralasien beschäftigt sich auch der kasachische Film »Ulbolsin« des Regisseurs Adilkhan Yerzhanov, der auf dem Filmfestival im Wettbewerb läuft. Ulbolsin ist eine junge Frau, die von Traditionen nicht viel hält. Sie arbeitet als Schauspielerin und hat zum Entsetzen der Dorfgemeinschaft keinen festen Partner. Ihrer sechzehnjährigen Schwester will sie ein Studium im Ausland ermöglichen und plant deshalb, zusammen mit ihr das Land zu verlassen. Doch bevor Ulbolsyn ihre Pläne umsetzen kann, wird ihre Schwester von einem älteren Mann entführt, der sie heiraten will. Der sogenannte Brautraub wird vor allem in ländlichen Gegenden bis heute praktiziert - Männer entführen Mädchen und junge Frauen und zwingen sie zur Heirat. Viele kommerzielle Filme thematisieren dieses Ritual bisher eher unkritisch oder machen eine Komödie daraus. Yerzhanovs Film dagegen ist feministisch.

Ulbolsyn versucht, ihre Schwester zu retten, doch immer wieder bekommt sie zu hören, dass der Entführer doch ein angesehener Mann sei und sie glücklich sein solle über die gute Partie, die ihre Schwester da gemacht habe. Egal wen Ulbolsyn zur Hilfe ruft - ob Polizei, die Mutter, einen befreundeten Blogger, Bekannte beim Militär oder eine Sicherheitsfirma -, alle schlagen sich am Ende auf die Seite des Entführers. Die Männer halten zusammen, und Ulbolsyn bleibt nichts anderes übrig, als die Sache selbst in die Hand zu nehmen.

Es gibt neben »Ulbolsin« weitere aktuelle Filme aus Zentralasien, die sich mit den Fragen nach Tradition und Moderne, mit der Rolle der Frau und den sozialen Missständen beschäftigen. Nicht selten kommt es in den Filmen zu ähnlich absurden Szenen wie in »Ulbolsin«, wenn sich alte Frauen in bunten Schürzen schreiend auf Soldaten in voller Kampfmontur stürzen, um ein patriarchales Ritual zu verteidigen. Solche Szenen zeigen die Absurdität des politischen und gesellschaftlichen Lebens, sagt der Politikwissenschaftler Rico Isaacs bei seinem Vortrag über »Widerstandskino in Kasachstan« auf dem Festival. Man brauche sich gar nicht erst etwas Groteskes auszudenken, »das Absurde ist die Realität«.

Die kritische Auseinandersetzung mit Politik und Gesellschaft ist jedoch nur die eine Seite des Kinos aus Kasachstan und den anderen Staaten der Region. Als die zentralasiatischen Republiken nach dem Ende der Sowjetunion unabhängig wurden, begann die Suche nach einer nationalen Identität, die sich auch in den seit den 90er Jahren entstandenen Filmen widerspiegelt. Es lässt sich eine traditionalistische Rückbesinnung ausmachen sowie ein Trend zu historisch-patriotischen Filmen, die mit staatlichen Fördergeldern gedreht werden. Mit ihnen wird das Vakuum einer nationalen Geschichte gefüllt und etwa ein kasachischer Gründungsmythos erzählt. Damit geht auch ein Rückschritt einher, was die Darstellung von Frauen betrifft. Im kommerziellen Kino gebe es heute kaum noch interessante Frauenrollen, berichtet Nigora Karimova. Schauspielerinnen können entweder die Mutter oder die Großmutter des Helden spielen.

Unabhängige Filme von kritischen Regisseur*innen wie Yerzhanov gibt es dennoch viele, was sich auch am breiten Programm des »GoEast«-Festivals zeigt. Doch während sich internationale Festivals um solche Filme reißen, haben sie in ihren Entstehungsländern nur ein kleines Publikum, merkt Rico Isaacs kritisch an. Wie groß ihr Einfluss auf gesellschaftliche Debatten und Entwicklungen sein kann, ist deshalb fraglich. Für das Publikum in Deutschland bieten die Filme wichtige Einblicke in eine Region, die hierzulande nicht oft im Fokus der Aufmerksamkeit steht.

Die Filme des Filmfestivals »GoEast« lassen sich noch bis zum 28. April unter https://online.filmfestival-goeast.de/de/home

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