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Resozialisierung über die Gegensprechanlage

Coronaregeln schränken Gefangene in Österreich noch mehr ein als ohnehin schon

  • Christof Mackinger
  • Lesedauer: 7 Min.

Es gibt Streit am Telefon. »Hör zu! Du hast in der Früh telefoniert.« Oliver Riepan wird zunehmend lauter, er deckt die Hörmuschel offenbar ab. Aber es sind noch immer Geräusche zu vernehmen, jemand ruft, dann scheppert es. »Ich hab bis jetzt gewartet. Jetzt bin ich dran!«, wehrt Riepan seinen Kontrahenten ab. Das Gedränge um das Wertkartentelefon sei jeden Tag enorm, erzählt er dann, als sich die Situation beruhigt hat. Das ist auch kein Wunder, denn der Apparat ist neben Briefen derzeit die einzige Möglichkeit, um Verbindung nach draußen zu halten. Das Wertkartentelefon befindet sich am Gang der sogenannten 21er-Abteilung in der Justizanstalt Krems-Stein in Österreichs größtem Gefängnis für Langzeitinhaftierte. Rund zwanzig Gefangene teilen sich hier das Telefon.

Die 21er sind Rechtsbrecher, die nach dem Paragrafen 21 Strafgesetzbuch verurteilt wurden. Bei ihnen handelt es sich um »geistig abnorme Rechtsbrecher«. Was in Deutschland die Sicherheitsverwahrung bezeichnet, ist in Österreich der Maßnahmenvollzug. Die 21er befinden sich dennoch oft in normalen Gefängnissen, was der Justiz seit Jahren heftige Kritik einbringt. Oliver Riepan ist einer von ihnen. Der Gefangene ist seit 2006 im Gefängnis, verurteilt zu einer lebenslangen Haftstrafe wegen Raubs, Widerstands gegen die Staatsgewalt, Waffenbesitzes und versuchten Polizistenmordes. 2016 gründete er in der Justizanstalt Graz-Karlau zusammen mit anderen Inhaftierten die österreichische Gefangenengewerkschaft und trat in den Hungerstreik aus Protest gegen die Haftbedingungen.

Lange Haftdauer, viele Suizide

Der österreichische Strafvollzug litt jahrelang an Überbelegung. Im Januar 2020 saßen 9189 Häftlinge ein, ausgewiesene Plätze gab es aber nur für 8855 Personen. Auf 100 Plätze kamen laut der Strafstatistik Space I des Europarats demnach 103,2 Insassen. Durch den coronabedingten Aufschub von Haftantritten gelang es jedoch, die landesweite Belegungskapazität erstmals auf 88 Prozent zu reduzieren.

Allerdings steigt die Zahl der Menschen im Maßnahmenvollzug kontinuierlich an. Lag sie vor 20 Jahren noch bei 572, sind es heute 1296 Menschen, das sind 15 Prozent der Inhaftierten in ganz Österreich. Dieser Wert trägt auch dazu bei, dass die durchschnittliche Haftdauer in Österreich mit 10,3 Monaten im Jahr 2018 im europäischen Vergleich recht hoch ist. Bei der Selbstmordrate führt Österreich sogar die Statistik an. Sie lag 2018 bei 12,8 je 10 000 Insassen. CM

Ein Lockdown im Lockdown

Als 21er läuft er Gefahr, tatsächlich bis ans Lebensende inhaftiert zu sein. Im Maßnahmenvollzug wird Jahr für Jahr die Gefährlichkeit der Inhaftierten begutachtet. Fällt die Prognose schlecht aus, werden sie nicht entlassen. Der 54-jährige Riepan gilt Gutachter*innen zufolge als gefährlich. Gründe für sie, übervorsichtig zu urteilen oder gar nicht erst richtig hinzuschauen, gibt es genug.

Am Telefon berichtet Riepan aus dem Gefängnis, das sich im Lockdown befindet - ein Lockdown im Lockdown sozusagen. Aufgrund eines Covid-19-Ausbruchs in der Anstalt ist der Besuch bei den Häftlingen seit über einem Monat untersagt, ebenso Freigänge, sportliche Aktivitäten und zum Teil sogar die Psychotherapien. Glaubt man dem Strafvollzugsgesetz, dann ist die Resozialisierung das oberste Ziel der Haft. »Dazu steht eine Reihe von ›Werkzeugen‹ zur Verfügung«, heißt es von offizieller Seite. Dazu zählen Vollzugslockerungen wie Außenarbeit, Freigang oder Ausgang sowie die Möglichkeit des Vollzuges im elektronisch überwachten Hausarrest. Aber es bleibt die Frage, ob im Dauerlockdown eine Resozialisierung überhaupt noch funktionieren kann.

Warnung vor psychischen Folgen

»Es zeigt sich, dass sich unser Vorgehen in der Pandemie bislang bewährt hat«, schreibt Christina Ratz. Sie ist die Sprecherin im Bundesministerium für Justiz. »Besuche und das sonstige Anstaltsleben wurden unter Einhaltung strenger Schutzmaßnahmen auf das notwendige Minimum reduziert bzw. zur Gänze ausgesetzt.« Man handhabe das in den Justizanstalten unterschiedlich, sehe sich dabei aber immer dem »Grundsatz der Verhältnismäßigkeit« verpflichtet. Tatsächlich sind in allen 28 Justizanstalten Österreichs seit mittlerweile mehr als einem Jahr normale Besuche unmöglich, nachdem es immer wieder anstaltsinterne Covid-19-Ausbrüche gegeben hat. In Krems-Stein gibt es seit Anfang März keine Besuche mehr. Darum ringen die Inhaftierten auch so sehr um das Telefon. In Covid-19-freien Wochen zwischen den Lockdowns waren lediglich Glasscheibenbesuche möglich. Die anhaltenden Einschränkungen bedeuten etwa, dass Inhaftierte ihre Kinder seit einem Jahr nicht mehr umarmen, ihre Partner*innen nicht mehr küssen konnten. Selbst die Vereinten Nationen warnten zuletzt vor großen psychischen Folgen für Inhaftierte.

Als Alternative zu Besuchen wird den Gefangenen das Videotelefonieren angeboten. Nach holprigen ersten Monaten läuft das System mittlerweile in allen Anstalten. Auf das wöchentliche Gespräch, das einen Besuch ersetzen würde, kommt trotzdem kaum einer der aktuell 7679 Inhaftierten. Dem Justizministerium zufolge fanden monatlich bis zu 2800 solcher Videogespräche statt. Oliver Riepan bestreitet aber, dass Inhaftierte dieses Angebot regelmäßig in Anspruch nehmen könnten. Anträge auf Videotelefonieren würden aus Zeit- und Ressourcenmangel regelmäßig abgelehnt. »Soweit ist die Regelmäßigkeit gegeben.« Er lacht am anderen Ende der Leitung. Im Hintergrund ist weiter Wirbel zu vernehmen. »Ich durfte seit Herbst ganze zweimal mit Video telefonieren.«

Zu Beginn einer Haft und bei Verlegungen muss jeder Gefangene eine zehntägige Quarantäne absolvieren, um das Virus nicht in die Anstalt zu bringen. Die Juristin Nóra Katona findet diese Quarantäne unumgänglich. Wichtig ist jedoch, dass Isolations- oder Quarantänemaßnahmen notwendig, verhältnismäßig und zeitlich begrenzt sind und nicht die Form einer de facto Einzelhaft annehmen. Auch sei die erste Phase der Haft besonders belastend. Katona arbeitet am Wiener Ludwig Boltzmann Institut für Menschenrechte und hat im Zuge des Forschungsprojekts »Open Research Behind Closed Doors« Dutzende 21er in österreichischen Haftanstalten befragt. In manchen Gefängnissen gebe es die Möglichkeit, sich schon vor dem Ende der Quarantäne »freizutesten«. Covid-19-Tests werden mittlerweile auch im Gefängnis durchgeführt, auch wenn noch unregelmäßig.

Trotz der rigiden Bestimmungen kommt das Virus immer wieder in die Anstalten. Zuletzt gab es gleich in mehreren Gefängnissen Corona-Ausbrüche. In der Justizanstalt Salzburg waren 74 Inhaftierte und 11 Beamt*innen betroffen. Damit war mehr als ein Drittel der Inhaftierten positiv. Ein ganzes Fünftel der Gefangenen infizierte sich in der Justizanstalt Innsbruck. Zu den 71 Inhaftierten kamen 41 positiv getestete Beamt*innen hinzu. »Einschränkungen ohne Ende«, schreibt ein Insasse aus Innsbruck im März per Brief. »Zwei Abteilungen sind mit Quarantäne-Insassen belegt, der gesamte Landwirtschaftsbetrieb mit 18 Insassen ist positiv.« Am meisten ärgert den Gefangenen, »dass das Vollzugsgericht das Sterberisiko in Kauf nimmt und Insassen, welche bereits den Großteil ihrer Strafe verbüßt haben, nicht enthaftet«. Tatsächlich gab es bereits einen Todesfall hinter Gittern. Wie erst jetzt bekannt wurde, ist bereits Anfang des Jahres ein Inhaftierter in Innsbruck an Covid 19 gestorben.

23 Stunden am Tag eingeschlossen

Eine nahe liegende Maßnahme einer Kontaktminimierung ist die Sperrung der Arbeitsbetriebe der Gefangenen. Durch die ständigen Schließungen etwa der Druckerei in der Justizanstalt Krems-Stein gebe es keine Aufträge von außerhalb, sagt Riepan. Aufträge bekämen die Knastdrucker derzeit vor allem von der Justizbehörde. Wegen der gesperrten Arbeitsstätten sei im Normalvollzug jetzt 23 Stunden am Tag »der Deckel zu,« erzählt er. Im Fall von Infektionen in der Anstalt müssten Gefangene sogar 24 Stunden in ihrer Zelle verbringen. Die mangelnden Arbeits- und Beschäftigungsmöglichkeiten würden die Gefangenen frustrieren. »Die Stimmung ist ang’fressn. Die Leute brauchen das Geld von der Arbeit in den Betrieben.«

»Ang’fressn« ist wahrscheinlich zu vorsichtig formuliert. In England wurden unter Inhaftierten bereits erhöhte Selbstverletzungsraten festgestellt, in Italien eine alarmierend hohe Zahl an Suiziden. In Österreich gibt es dazu bislang keine unabhängigen Untersuchungen.

Mit der Impfung rückt die Hoffnung auf Normalität auch in Österreichs Straf- und Maßnahmenvollzug in Aussicht. »Ganz, ganz wichtig ist neben den Untergebrachten auch die Impfung des Personals«, so Katona. Schließlich pendeln Beamt*innen immer zwischen drinnen und draußen und haben viel Kontakt. Aber die stockenden Impfstofflieferungen in Österreich sind auch im Gefängnis zu spüren. Jüngst hat aber auch hinter Gittern die Impfung von Risikopatient*innen begonnen. Mitte April waren bereits 1779 Stiche gesetzt, sowohl bei Justizbeamt*innen als auch bei Inhaftierten.

Aber noch dominieren die »Einschränkungen ohne Ende« die Haft. Resozialisierende Maßnahmen, wie die Arbeit in anstaltseigenen Betrieben oder draußen, bleiben untersagt. Freigänge, wie sie in der letzten Phase des Strafvollzugs vor der Entlassung üblich sind, wurden weitgehend ausgesetzt. »Die Leute werden auf die Straße gestellt und können schauen, wo sie bleiben« - ohne Vorbereitung, wie Oliver Riepan erzählt.

Resozialisierung wird aufgeschoben

Nicht zuletzt die therapeutische Betreuung leidet unter den Einschränkungen. Gerade im Maßnahmenvollzug ist sie eine Voraussetzung für die psychische Gesundung der Insass*innen. Zuletzt sollten in Krems-Stein Therapien über die Gegensprechanlage stattfinden, berichtet Riepan lachend. Eine Sprecherin der Justiz bestätigt das.

Nóra Katona, die zum Maßnahmenvollzug forscht, weiß, dass es für die Inhaftierten wichtig ist, Lockerungsphasen im Vollzug zu durchlaufen. Die sind für eine bedingte Entlassung notwendig. Aber die Lockerungen wurden im vergangenen Jahr immer wieder ausgesetzt, ohne Zutun der Inhaftierten. »Das hat zur Konsequenz, dass Personen möglicherweise länger im Maßnahmenvollzug sein werden«, weiß sie. »Und das ist sehr bedenklich.«

Für Oliver Riepan ist eine Entlassung bis auf Weiteres nicht in Sicht. Für ihn wird der Andrang am Wertkartentelefon in der 21er-Abteilung noch länger bestimmendes Thema bleiben.

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