Der Corona-Kollaps

Überlastete Krankenhäuser und nicht ausreichend Sauerstoff: Die zweite Pandemiewelle hat Indien fest im Griff

  • Philipp Hedemann
  • Lesedauer: 5 Min.

Vor manchen Kliniken stehen Rettungswagen, die ihre Patienten nicht loswerden«, sagt Suvirajh John, Chefarzt am renommierten Sir-Ganga-Ram-Krankenhaus in Delhi. Auf der Suche nach einem freien Krankenhausbett seien sie teilweise zwei, drei Tage durch die Stadt gefahren, ohne eines zu bekommen. »Manche Patienten sterben im Krankenwagen, und die Krankenhäuser haben nicht ausreichend Platz, um die Leichen zu lagern.« Verzweifelt kämpft der Mediziner in der indischen Hauptstadt gegen die heftige zweite Coronawelle - und ist dabei oft machtlos. Im ganzen Land mangelt es an Medikamenten, freien Krankenhausbetten und auch an Sauerstoff, um schwer erkrankte Patienten zu beatmen.

Indien meldete am Donnerstag 3645 weitere Corona-Tote und 379 308 Neuinfektionen. Damit gab es zum achten Mal in Folge mehr als 300 000 neue Fälle an einem Tag. Kein anderes Land hat bisher so viele tägliche Neuinfektionen gemeldet. Mit rund 18,4 Millionen Erkrankten und 204 832 Toten steht Indien nach Angaben der amerikanischen Johns-Hopkins-Universität nach den USA auf Platz zwei der Länder mit den meisten Infizierten. Experten befürchten jedoch, dass die tatsächliche Zahl deutlich höher liegen dürfte, da in Indien wenig getestet wird.

Rätsel um B.1.617

Auch in Indien gibt es Besorgnis wegen einer neuen Mutante des Coronavirus, die nach der gängigen PANGO-Abstammungslinie B.1.617 beziffert wird. Sie weist insgesamt 13 Mutationen auf, davon zwei im Spike-Protein, das für das Andocken des Virus an Körperzellen verantwortlich ist. Gewisse Ähnlichkeiten gibt es zu den in Südafrika und Brasilien entdeckten Mutanten.

Unklar ist, wie stark B.1.617 in Indien verbreitet ist. Hier wird lediglich in zwei Hightech-Regionen sequenziert, weniger als ein Prozent der Proben ist daraufhin untersucht. Der Anteil der mutierten Variante ist bei diesen in einer Region in den vergangenen Wochen von 10 auf etwa 70 Prozent gestiegen, doch verallgemeinerbar auf den ganzen Subkontinent ist das nicht. Wenig Zweifel gibt es jedoch, dass sich diese Mutante in Indien schnell ausbreitet, was aber auch für die britische Mutante B.1.1.7 gilt. Die 617er Variante dürfte infektiöser sein als das Ursprungsvirus.

Doch wie gefährlich ist sie? »Wir haben momentan keinen Beleg dafür, dass es eine Erhöhung der Krankheitsschwere gibt«, sagt Virologe Christian Drosten von der Berliner Charité. Und dass so viele junge Leute auf den Intensivstationen liegen, hänge eher mit der generellen Bevölkerungsstruktur in Indien zusammen.

Die Befürchtung bei allen Varianten ist, dass Geimpfte und Covid-Genesene vor einer Ansteckung weniger gut geschützt sind. Die befürchtete Eigenschaft eines »Immunescape«, also dass die Mutante der Immunantwort des Körpers entkommt, halten Wissenschaftler bei B.1.617 für gering ausgeprägt. Allerdings werden die Spike-Mutationen »mit einer reduzierten Neutralisierbarkeit durch Antikörper oder T-Zellen in Verbindung gebracht, deren Umfang nicht eindeutig ist«, wie das Robert-Koch-Institut schreibt. Auch das ist derzeit eine Mutmaßung. Gerade ist eine Studie erschienen, laut der das in Indien entwickelte und hergestellte Vakzin Covaxin, ein Totimpfstoff mit einem Wirkverstärker, gegen die 617er Variante ähnlich wirksam ist wie gegen andere. Die Studie des Herstellers Bharat Biotech ist aber noch nicht unabhängig überprüft. 

In Indien scheinen eher politische Überheblichkeit, Leichtsinn, durch andere Krankheiten geschwächte Bevölkerungsgruppen und langsame Impfkampagnen auf ein unvorbereitetes Gesundheitssystem zu treffen, wie der gravierende Mangel an Sauerstoff zeigt. Oder wie es der Epidemiologe Alexander Kekulé von der Universität Halle-Wittenberg formuliert: »Der Aufreger ist nicht die Mutation, sondern dass so viele Leute jetzt sterben.« Kurt Stenger

»Viele Krankenhäuser haben derzeit nicht genug medizinischen Sauerstoff. Das gesamte medizinische Personal arbeitet bis zur körperlichen und emotionalen Erschöpfung und versucht, so viele Leben wie möglich zu retten«, berichtet Suvirajh John. Trotz der rund um die Uhr arbeitenden Ärzte und Pfleger müssen derzeit Hinterbliebene in Krematorien aushelfen, um ihre verstorbenen Angehörigen einzuäschern.

»Kein anderes Land der Welt hatte so einen schnellen Anstieg der Corona-Infektionszahlen wie Indien. Wir haben mit einer zweiten Welle gerechnet, aber wir haben nicht damit gerechnet, dass sie so dramatisch werden würde«, erklärt John.

Christian Wagner, Indienexperte der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik, hatte schon zu Beginn der Pandemie damit gerechnet, dass das öffentliche indische Gesundheitssystem irgendwann unter der Wucht von vielen Neuinfektionen kollabieren könnte. Er glaubt, dass der Kampf der indischen Regierung gegen die Pandemie von Anfang an kaum zu gewinnen war. »Mit dem unterfinanzierten und oft maroden öffentlichen Gesundheitssystem konnte man einer solchen Herausforderung nicht Herr werden. Zwar wurden die Ausgaben für den Gesundheitsbereich zuletzt erhöht, aber man kann während einer Pandemie nicht nachholen, was in Jahrzehnten zuvor versäumt wurde«, so der Wissenschaftler.

Die zweite Coronawelle sei derzeit »außer Kontrolle«, meint auch Franklin Jones, Chef des Katastrophenmanagements der internationalen Hilfsorganisation World Vision in Indien. »Die Menschen betteln um ein Krankenhausbett für sich und ihre Angehörigen, einige Menschen sterben auf den Gehwegen vor den überfüllten Kliniken. Mancherorts ist der Sauerstoff ausgegangen, und beatmete Patienten sind deshalb in Krankenhäusern erstickt und so gestorben. In Teilen der Bevölkerung herrscht Panik«, so der erfahrene Helfer. Auch mehr als 100 World-Vision-Mitarbeiter und Familienmitglieder haben sich schon mit dem Coronavirus infiziert. Alleine in der vergangenen Woche starben zwei von ihnen.

Vor allem der Mangel an Sauerstoff für Beatmungspatienten macht Jones Sorge. Die indische Regierung setzt bereits Militärflugzeuge und Züge ein, um Sauerstoff in die besonders betroffene Hauptstadt zu bringen, in den sozialen Netzwerken und auf dem Schwarzmarkt versuchen verzweifelte Angehörige zu überteuerten Preisen überlebensnotwendigen medizinischen Sauerstoff aufzutreiben. »Leider horten auch Erkrankte, die nicht beatmet werden müssen, Sauerstoff und wichtige Medikamente für den Notfall. Das verschärft die Lage. Die Regierung hat die Industrie angewiesen, sofort Sauerstoff herzustellen, aber ich befürchte, dass die dramatische Situation sich noch mindestens zehn Tage lang verschlimmern wird, bevor sich die Lage hoffentlich entspannt«, meint Jones. Die indische Regierung hat World Vision deshalb darum gebeten, sie bei der Beschaffung von Sauerstoffgeneratoren und anderer Ausrüstung für die staatlichen Krankenhäuser zu unterstützen. Außerdem betreibt die Organisation Aufklärungsarbeit zur Vermeidung von Infektionen und klärt über die Impfkampagne der Regierung auf. Denn trotz der hohen Zahl an Neuinfektionen gibt es in Teilen der Bevölkerung noch immer Vorbehalte gegenüber der Impfung.

Pratibha Srivastava ist Koordinatorin der Welthungerhilfe und eine der offiziell mehr als 18,4 Millionen Inderinnen und Inder, die sich bereits mit Covid-19 angesteckt haben. Die 53-Jährige infizierte sich Ende März in der Millionenstadt Bhopal. »Obwohl ich mich sofort in Quarantäne begeben habe, habe ich auch meine beiden Kinder und meinen Mann angesteckt. Die derzeit in Indien vorherrschende Virusmutation ist sehr aggressiv. Ich hatte hohes Fieber, Kopf- und Gliederschmerzen, trockenen Husten und war sehr erschöpft«, berichtet die Expertin für öffentliche Gesundheit. Würde sie sich heute infizieren und schwer erkranken, wäre es nicht gewährleistet, dass sie überhaupt ein Bett im Krankenhaus bekäme und dort im Notfall beatmet werden könnte. »Die Menschen, die jetzt schwer erkranken, haben Angst, dass sie das Krankenhaus nicht mehr lebend verlassen«, erzählt sie. Mehrere ihrer Familienangehörigen und Freunde sind bereits an Corona gestorben. Angst macht ihr, dass mittlerweile auch viele jüngere Menschen ohne Vorerkrankungen schwer erkranken. »Es gibt einfach viel zu wenig Testkapazitäten. Von symptomfrei Erkrankten, die das Virus unwissentlich verbreiten, geht deshalb eine große Gefahr aus«, so Srivastava. Um einer weiteren Eskalation der Coronakrise in Indien entgegenzuwirken, führt die Welthungerhilfe unter anderem Aufklärungskampagnen zum Schutz vor einer Ansteckung durch, hat ihre Aktivitäten im Hygiene- und Sanitärbereich ausgeweitet und kümmert sich um Menschen, die aufgrund der Krise vom Hunger bedroht sind.

Aus Angst vor der Ausbreitung der in Indien aufgetretenen neuen Virusmutante B.1.617 hat Deutschland unterdessen wie viele weitere Länder einen weitgehenden Einreisestopp für Indien verhängt. Zugleich sagten Deutschland, die USA, Großbritannien und weitere Staaten - darunter Erzfeind Pakistan - Indien Unterstützung zu. Am Donnerstag kam eine erste Lieferung aus den USA an mit Schnelltests, Schutzmasken, nachfüllbaren Sauerstoffflaschen und vor allem 1700 Sauerstoffkonzentratoren.

Trotz der dramatischen Situation gibt sich Suvirajh John kämpferisch: »Unser Land hat in der Vergangenheit schon viele Katastrophen wie Hungersnöte durchgemacht. Aber diese zweite Covid-19-Welle stellt uns alle auf eine unerwartet harte Probe. Doch Inder sind sehr gut darin, sich in Krisen neu zu erfinden. Wir werden auch diesen Kampf gewinnen.«

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