Der Vorhang ist gefallen

Karl Drechsler erinnert an das bizarre Jahr in den USA, das in die Abwahl von Donald Trump mündete

  • Wolfgang Küttler
  • Lesedauer: 5 Min.

Dass auch zeitnahe Berichterstattung für einen erfahrenen Historiker reizvoll und produktiv sein kann, zeigt Karl Drechsler mit seinem Rückblick auf die Präsidentschaftswahl in den USA im vergangenen Jahr. Dieser hat einerseits in der Art der Darstellung das Format einer Chronik. Andererseits aber verfolgt der Autor das Geschehen nach einem klar Position beziehenden Konzept, das er im Vorwort in Fragen an die Entscheidungssituation und die Konsequenzen der Wahlentscheidung reflektiv formuliert: »Darf ein zerstörerischer, unberechenbarer Präsident noch einmal vier Jahre im Amt bleiben?« Und: »Kann wenigstens ein Anfang gemacht werden, um die Krise, in der sich die Gesellschaft der USA seit langem befindet, schrittweise zu überwinden?«

Diese Fragestellung ergibt sich aus den Erfahrungen mit der extrem polarisierenden ersten Amtsperiode von Donald Trump, die der Autor zwar nicht als Ursache, aber als gefährlich verschärfendes Symptom einer allgemeinen Krise sieht. Drechsler geht es nicht um Leitlinien für die Deutung von Vergangenem, sondern vielmehr - gewissermaßen in Umkehrung der Historikern oft nachgesagten Rolle des rückwärtsgewandten Propheten - um ein Konzept für die Erklärung eines Vorgangs, der zu Beginn der Arbeit an seinem neuen Buch noch in der Zukunft lag. Für den Autor bedeutet der damit erreichte Gewinn an Authentizität zugleich Verzicht auf objektivierenden Abstand und Beschränkung auf Informationen aus US-amerikanischen und deutschen Print- und Internetmedien. »Work in progress« trifft in doppeltem Sinne für seine Darstellung und deren Gegenstand zu, so dass man die einzelnen Phasen wie in Momentaufnahmen mit allen Wiederholungen und Wendungen ergebnisoffen nacherleben kann - wobei sich der Tenor des Reports mit dem Geschehen ändert.

Dass dieses Wahljahr »eines der dramatischsten und aufregendsten, tragischsten und chaotischsten« in der bewegten Geschichte der USA werden sollte, wie im Vorwort resümiert wird, war in den ersten Monaten 2020 noch nicht absehbar. Die ersten Kapitel des Buches schildern einen äußerst aufgeheizten, aber im Großen und Ganzen noch in normalen Bahnen verlaufenden Wahlkampf. Ungewöhnlich ist zwar schon der Auftakt: das am Widerstand der republikanischen Senatsmehrheit scheiternde Amtsenthebungsverfahren der Demokraten im Herbst 2019. Aber trotz aller Kritik an seinem Regierungsstil konnte Trump Anfang des vergangenen Jahres durchaus Vorteile aufweisen: Die Wirtschaft boomte, die Demokraten waren zerstritten und mit einer schwierigen Kandidatenauslese im Vorwahlkampf beschäftigt. Auch der daraus als Sieger hervorgehende Herausforderer Joe Biden wirkte anfangs blass, unsicher und inhaltlich wenig entschlossen. Bis dahin schien der Amtsbonus für Trump zu wirken.

Entscheidende Kippp- und Wendepunkte für den weiteren Verlauf waren im März und April 2020 der Einbruch der Naturgewalt der Corona-Pandemie sowie etwa zeitgleich die Explosion sozialer Gewalt infolge der Ermordung des Afroamerikaners George Floyd durch einen weißen Polizisten. Beides zusammen offenbart wie in einem Brennglas die Polarisierung des Landes in Arm und Reich, Schwarze und Weiße, Gewinner und Verlierer von Digitalisierung und Globalisierung. Das Geschehen wurde von da an durch eine Mixtur von Corona, Wahlkampf und Aufruhr sowie den »Einbruch der Wirtschaft« bestimmt. Das wird nicht nur spannend geschildert, sondern auch reichlich mit in Statistiken und Karten aufbereitetem Material aus dem Internet belegt.

Zugleich veränderte sich das Kräfteverhältnis nicht zuletzt aufgrund der Folgen der Versagens Trumps im Kampf gegen die Pandemie, zu deren globalen Epizentrum die USA im Sommer und Herbst wurden. Biden gewann schließlich durch seine klare Haltung in dieser Krise und auch durch die Nominierung von Kamala Harris als erste Schwarze für das Amt der Vizepräsidentin immer mehr an Boden. Zugleich wurde die Gefahr größer, dass Trump neben allen möglichen juristischen Tricks auch illegale Mittel einzusetzen entschlossen war, um seine drohende Niederlage zu verhindern.

Dadurch geriet der Wahlkampf »auf der Zielgeraden«, im September und Oktober, zu einem schicksalhaften »Kampf um die USA«, um ihre institutionellen und ideellen Grundlagen. Dieser war auch nach dem Wahltag der Demokraten am 3. November nicht beendet. Alle Tricks und Einsprüche, alle Drohungen und Hetzreden Trumps liefen jedoch schließlich ins Leere, am 14. Dezember bestätigten die Wahlleute aus den 50 Bundesstaaten Bidens Sieg. Hier schließt Drechslers Bericht mit einem Ausblick auf die schweren, vom neuen Präsidenten zu lösenden Aufgaben, womit die eingangs gestellte Frage aufgegriffen wird, ob es nach der Abwahl Trumps möglich sei, »durch grundlegende soziale und politische Reformen einen Neuanfang zu wagen« - vergleichbar mit dem New Deal von Franklin D. Roosevelt in den 1930er Jahren und nunmehr auf das 21. Jahrhundert bezogen.

Bedauerlich ist, dass den dramatischen Ereignissen bis zum 20. Januar, dem Tag der Inauguration Bidens, nur noch knappe »Bemerkungen nach Redaktionsschluss« gewidmet sind. Vor allem der Sturm einer von Trump aufgewiegelten Menge auf das Kapitol in Washington D. C., den Sitz des Kongresses und damit das Symbol der parlamentarischen Demokratie, zeigt mehr als alle vorausgegangenen Ereignisse, in welcher Gefahr sich die institutionellen und ideellen Grundlagen der USA auch nach dem Wahlsieg Bidens befanden. Dieser letzte Akt des im Buch vorgeführten Dramas hätte ein eigenes Kapitel verdient, weil erst hier der Vorhang wirklich fällt und die Szene für neue Auseinandersetzungen geöffnet wird. Das hätte die Botschaft dieses lesenswerten Buches - dass es hier nicht nur um die USA geht - noch einmal bestärkt.

Karl Drechsler: Ein bizarres Jahr. Der Kampf um die USA. Von der Eröffnung des Impeachment-Verfahrens am 18. Dezember 2019 bis zur Präsidentschaftswahl am 3. November 2020. Trafo, 218 S. br., 13,20 €.

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