Zwischen Dinosauriern

Spaß und Verantwortung

  • Olga Hohmann
  • Lesedauer: 3 Min.

Naturwissenschaftler*innen sind eine echte Rarität in meinem Freundeskreis. Auf Anhieb fallen mir nur zwei ein: Ein Biologe, der jetzt einen Doktor in Philosophie macht - und ein Physiker, der heutzutage Schauspieler ist. Beide haben aber ein großes Talent dafür, mir Dinge zu erzählen, die meine Wahrnehmung drastisch verschieben. Die kuriosen Fakten können sich auf alles Mögliche beziehen, auf den Geruch des Weltraumes (»nussig«), Hausmittel gegen Covid (Tonic Water) oder, ebenfalls ein Klassiker, auf die Spezies, die »vor unserer Zeit« diesen Planeten bewohnt haben (Dinosaurier).

Meine Weltwahrnehmung wurde spätestens dann umgestülpt, als jener Physiker-Schauspieler mich darauf aufmerksam machte, dass mehr Zeit zwischen dem Vorkommen des Brontosaurus (der Pflanzenfresser mit dem langen Hals) und dem Tyrannosaurus Rex (der Fleischfresser mit dem Stiernacken) vergangen war, als zwischen dem Vorkommen des Tyrannosaurus Rex und dem Homo Sapiens, also uns. Die selbstverständliche Annahme, dass es »die Dinosaurier« und »die Menschen« als Einheiten zweier verschiedener archäologischer Epochen gab, war damit entkräftet - stattdessen fühlte ich mich unangenehm mit dem aggressiven Fleischfresser verwandt. Schon als Kind hatte ich mich, bei den regelmäßigen Besuchen des Berliner Naturkundemuseums, spontan zu dem freundlichen Riesenskelett mit dem verhältnismäßig winzigen Kopf (und Gehirn) hingezogen gefühlt - statt zu dem kleinen Kampfriesen. Irgendwie identifizierte ich mich mit der leicht dümmlich wirkenden Friedlichkeit des großen Tieres - außerdem litt ich selbst an Minderwertigkeitskomplexen aufgrund meines zu langen Halses.

Neulich stieß ich in einem ganz anderen Kontext auf die ausgestorbene Spezies. Zwei Dinosaurier der Philosophie, Jean Baudrillard und Boris Groys, unterhielten sich über das Konzept der »Illusion des Endes«. Das Gespräch war in den 1990er Jahren in einem Wiener Kaffeehaus aufgezeichnet worden. Im Hintergrund Kuchen essende Philosophiestudent*innen in schwarzen Rollkragenpullovern: Statist*innen, die sich selbst darstellten. Die Hauptthese der Diskussion war: »Das Ende zeigt an, dass etwas stattgefunden hat«. Zur Unterstützung dieser Idee beschrieb Baudrillard eine Szene aus dem Film »Jurassic Park« - und gab dem Wort »Dinosaurier« dabei aus Versehen eine französische Endung: »Dinosauren« (gesprochen: »Dinosoren«). Im Film trafen jene »Dinosoren« auf Klone - was ein für Baudrillard interessantes Verhältnis zur Frage nach (Über-)Zeitlichkeit darstellt.

Auch ich bediente mich neulich praktisch an der Theorie der »Illusion des Endes«, indem ich mich entschied, einer Geschichte (die keine war) ein Ende zu setzen (um sie zu einer zu machen). Ich schrieb einen Abschiedsliebesbrief an einen Lover, mit dem ich, laut »Urban Dictionary«, in einer Art »Situationship« gewesen war: »like a friendship but more than a friendship but not quite a relationship«, also wie eine Freundschaft, aber mehr, jedoch keine Beziehung. Es war meine erste Erfahrung dieser Art gewesen und ich hatte sie zuerst genossen und dann angefangen, unter ihr zu leiden. Weil ich also merkte, dass diese »Situationship« langsam aber sicher anfing, meinen Glauben an echte Liebe anzugreifen, entschied ich mich dafür, einen unverhältnismäßig dramatischen und sentimentalen Akt zu vollziehen und schrieb jenen Brief. Posthum erklärte ich damit das, was vorher erklärterweise »nichts« gewesen war, zu »etwas« - ein emanzipatorischer Akt, um die Hoheit über das Narrativ meiner eigenen Geschichte zurückzuerlangen.

Groys schließt das Gespräch mit einem Exkurs über die »relative Wichtigkeit von Robben« ab. Ich forderte die notwendige Wichtigkeit meiner Gefühle ein. Wenn die Museen wieder öffnen, fahre ich als erstes ins Naturkundemuseum und schaue mir noch einmal das Skelett des Brontosaurus an, das materielle Äquivalent zu meinem Brief. Ob ihm das Narrativ, in einem Berliner Museum ausgestellt zu sein und von Kindergartengruppen betrachtet zu werden, wohl gefallen würde?

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