Der Arzt auf dem Untersuchungstisch

Ronald D. Gerste erzählt unbekannte Geschichten aus dem Goldenen Zeitalter der Medizin

  • Frédéric Valin
  • Lesedauer: 6 Min.

Ignaz Semmelweis hatte es nicht leicht. Heute gilt er als einer der Väter der Krankenhaushygiene, seinerzeit sahen seine Kolleg*innen in ihm einen verschrobenen Kauz, der ihnen mit seinen Vorschriften auf die Nerven ging. Semmelweis war 1837 aus Buda zum Studium an die renommierte Wiener Universität gekommen. Dort lernte er bei dem berühmten Pathologen Carl von Rokitansky, der in einer kleinen Baracke neben der Ersten Geburtshilflichen Klinik praktizierte. Vier bis sechs Sektionen führte er an einem Vormittag vor Publikum durch; unter den Toten waren viele junge Frauen, die kürzlich erst entbunden hatten.

Das Kindbettfieber war das Damoklesschwert, das in jener Zeit über allen Schwangeren schwebte - besonders aber über jenen Frauen der unteren Schichten, die in den städtischen Krankenhäusern Europas entbanden. In Wien waren besonders jene Gebärenden gefährdet, die das Pech hatten, in die Erste Klinik eingewiesen zu werden. Dort lag die Sterblichkeitsrate weit über der auf der zweiten Station, teilweise war sie um das Fünffache höher. Warum, war völlig unklar: Gängige Erklärungsversuche wie schädliche Stoffe in der Luft oder ungünstige kosmische Konstellationen griffen nicht als Erklärung. Nichts unterschied die beiden Stationen, außer dass in der ersten Mediziner*innen die Gebärenden betreuten und in der zweiten Hebammen. Einen Zusammenhang mochte niemand erkennen, es schien ein dunkles Geheimnis über der Ersten Klinik zu liegen.

Dieses Rätsel faszinierte Ignaz Semmelweis. Sieben Jahre nach seiner Ankunft in Wien erhielt er seinen Doktorgrad und spezialisierte sich auf das Gebiet der Geburtshilfe. Immer wieder sah er den gleichen Verlauf: «Es setzte meist binnen 24 Stunden nach der Niederkunft ein. Die Frauen entwickelten ein Fieber, bekamen Schmerzen im Unterleib und wenn Semmelweis sie untersuchte, war die Bauchdecke hart», schreibt Gerste. Sie glitten ins Delirium, das Fieber stieg, es folgte ein Koma und dann der Tod. «Bei der Sektion zeigte sich stets ein ähnliches Bild: stark entzündete Unterleibsorgane, Eiteransammlungen und Abszesse» überall im Körper.«

Es war ein Zufall, der Semmelweis auf die Lösung brachte. Ein guter Freund hatte sich während einer Sektion am Finger verletzt und war kurz darauf verstorben - nach einem ganz ähnlichen Verlauf, wie ihn Semmelweis von den Wöchnerinnen kannte. Da wusste er: Es hatte mit den Leichen zu tun. Wie genau, blieb zwar unklar, aber die Lösung war dennoch simpel: Hände waschen.

Das allerdings war unbequem, denn zur Desinfektion wurde damals Chlorkalklösung benutzt, die ätzend ist und die Hände juckend macht. Obendrein war Semmelweis sehr streng mit seinen Kolleg*innen und überwachte die Einhaltung der neuen Hygieneregeln persönlich. Er schreckte auch nicht davor zurück, nachlässigere Kolleg*innen lautstark vor versammelter Belegschaft auf ihre Schlampigkeit hinzuweisen. Der Erfolg war durchschlagend: Starben vor der Semmelweis’schen Neuerung 20 Prozent der Patientinnen, sank die Todesrate auf einen Schlag unter zwei Prozent.

Dass Semmelweis für diese Leistung keine gebührende Ehrung erhielt, lag zum einen an der Zeit: Europa stand 1847 kurz vor einer Reihe revolutionärer Umstürze, die die Öffentlichkeit derart beschäftigten, dass selbst bahnbrechende Erkenntnisse wenig Interesse weckten. Kein Jahr danach standen in vielen Hauptstädten des Kontinents die Barrikaden, in Wien übernahmen kurzzeitig die Aufständischen die Macht, ehe kaiserliche Truppen die Stadt stürmten.

Außerdem war und blieb Semmelweis ein Außenseiter, obendrein einer, der im Umgang nicht immer ganz einfach war. Sein bisweilen rauer Ton und seine aufbrausende Art machten ihm viele Feinde. Viele renommierte Ärzte lehnten seine Erkenntnisse ab, darunter auch Rudolf Virchow, schlicht weil sie nicht glauben wollten, dass Ärzte selbst den Tod über Patientinnen gebracht hatten.

Diese und viele weitere Geschichten erzählt Ronald D. Gerste in dem Buch »Die Heilung der Welt«. Es behandelt die Zeit von 1840 bis 1914, also jene Epoche, die als Goldenes Zeitalter der Medizin gilt. Es war eine Zeit der Entdeckungen, neuer Erkenntnisse, eine Zeit auch, in der die Hoffnung auf eine verheißungsvolle Zukunft aufkeimte: dass die Menschen von vielen ihrer Leiden befreit sein würden, dass Wissenschaft und Vernunft die Beherrschung der Welt zu einem Abschluss bringen würden. Die Katastrophe des Ersten Weltkrieges brachte der sogenannten ersten Welt die Erkenntnis, dass sie da einem fatalen Irrtum aufgesessen war.

Das Interesse an medizinhistorischen Stoffen ist auch dank diverser Serien in den letzten Jahren stark gewachsen. Produktionen wie »The Knick« über ein fiktives New Yorker Krankenhaus im frühen 20. Jahrhundert, »The Alienist« und vor allem »Charité« über die Historie des berühmten Berliner Krankenhauses haben diesem Genre ein breites Publikum eingebracht.

Dass solche Stoffe noch lange nicht ausgeschöpft sind, davon zeugt Gerstes Buch: Auf überaus unterhaltsame Art, elegant im Stil und immer auch mit Blick auf die weltgeschichtlichen Entwicklungen erzählt er von den berühmten Forschern wie Robert Koch, Louis Pasteur, Sigmund Freud, Charles Darwin und Paul Ehrlich. Von Organisatoren wie Henry Dunant, der das Rote Kreuz mitbegründete, und Florence Nightingale, aber auch von weniger bekannten Pionieren wie Robert Collins, der in Dublin 1829 durch Hygienemaßnahmen die Müttersterblichkeit auf null gesenkt hatte, oder von William Stewart Halsted, der die Gummihandschuhe erfand. Er erinnert auch an Personen, die man lange übergangen hatte: Mary Seacole beispielsweise, eine aus Jamaika stammende Krankenschwester, die während des Krimkrieges ein ganzes Hotel zu einem improvisierten Hospital ausbaute, um verwundete Soldaten zu versorgen. 2004 wurde sie von der BBC zur »Bedeutendsten Schwarzen Britin« gekürt.

Auch Pandemiegeschichte spielt in dem Buch eine Rolle. Sehr anschaulich erzählt Gerste von der Pionierarbeit, die John Snow mit dem Nachweis leistete, dass sich die Cholera über verunreinigtes Trinkwasser verbreitete. Dafür untersuchte er die Umgebung einer Pumpe in der Broad Street. Ihm half dabei, dass Mitarbeiter einer nahe gelegenen Brauerei gar nicht erkrankt waren, weil sie statt des kontaminierten Wassers den ganzen Tag Bier tranken.

Semmelweis jedenfalls kehrte nach Pest (heute ein Teil von Budapest) zurück, nachdem ihm eine Beförderung verwehrt worden war. Dort eröffnete er eine Praxis, er wurde zum Professor für Geburtshilfe ernannt. Unter seiner Leitung sank die Sterblichkeit aufgrund von Kindbettfieber auf 0,39 Prozent, während sie in Wien, wo der Schlendrian erneut Einzug hielt, wieder auf 10 bis 15 Prozent stieg. Semmelweis schrieb nebenher an seinem Hauptwerk, das auch eine Abrechnung mit seinen Gegnern darstellte. Über Virchow sagte er, jener sei »ein Schreckensbild für die Naturforschung«, seinen Kontrahenten Friedrich Wilhelm Scanzoni erklärte er »vor Gott und der Welt für einen Mörder«, wenn er nicht endlich seine, also Semmelweis’, Lehre anerkenne und umsetze.

Seine Aggressivität mag pathologische Ursachen gehabt haben. Unter anderem wird Syphilis als Grund vermutet vermutet. In den frühen 1860er Jahren verschlechterte sich jedenfalls sein Zustand, er wurde in die sogenannte Landesirrenanstalt Döbling verbracht. Dort wurde er »offenbar vom Pflegepersonal misshandelt«, wie Gerste schreibt, und vielleicht zog er sich dabei jene Verletzung am Finger zu, aus der sich dann eine Sepsis entwickelte. Zwei Wochen nach seiner Einlieferung verstarb Semmelweis an eben jenem Leiden, dessen Bekämpfung er sein berufliches Leben gewidmet hatte.

Ronald D. Gerste: Die Heilung der Welt. Das Goldene Zeitalter der Medizin 1840-1914. Klett-Cotta, 400 S., geb., 24 €.

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