Progressive Opportunisten

Die CDU war immer pragmatisch bis zur Selbstverleugnung. So hat sie auch die Wahlen in Sachsen-Anhalt gewonnen

  • Frank Jöricke
  • Lesedauer: 6 Min.

Ein kleines Quiz vorab: Welche Regierung setzte durch, dass die Renten an die Lohnentwicklung angepasst wurden, dass ein Ehemann nicht mehr das Arbeitsverhältnis seiner Frau kündigen darf, dass Autohersteller Katalysatoren einbauen müssen, dass der schwulenfeindliche Paragraf 175 aus dem Strafgesetzbuch gestrichen wurde, dass die Pflegeversicherung eingeführt wurde, dass junge Männer keinen Wehrdienst mehr leisten müssen und dass der Ausstieg aus der Atomkraft forciert wurde? Die Antwort ist in allen Fällen dieselbe: eine CDU-geführte Regierung.

Besonders konservativ klingt all das nicht. Doch es ist das Schicksal dieser Partei, dass sie seit jeher missverstanden wird. Bereits in ihren Anfangstagen, 1945, wurde sie verkannt. Dies lag daran, dass die CDU von vielen als Nachfolgerin der Zentrumspartei gesehen wurde. Die Gründungsmitglieder Leo Schwering (ursprünglich Gymnasiallehrer), Jakob Kaiser (CDU-Vorsitzender der sowjetischen Besatzungszone) und Karl Arnold (Ministerpräsident von NRW) gehörten wie Konrad Adenauer ursprünglich dem Zentrum an - und das galt spätestens seit Reichskanzler Heinrich Brüning als konservativ.

Tatsächlich war die neu gegründete CDU ein Sammelbecken von Idealisten und Opportunisten. Die einen träumten von einer neuen, europäisch geprägten Zukunft; den anderen genügte es, wenn sich - schon im Interesse der eigenen Karriere - der Schleier des Vergessens über die nationalsozialistisch geprägte Vergangenheit legte. Was alle - christliche Gewerkschafter wie Nazi-Mitläufer verband - war der Wille, das Nachkriegselend hinter sich zu lassen. Kein Slogan brachte dies besser zum Ausdruck als »Wohlstand für alle«, mit dem die CDU 1957 die absolute Mehrheit holte.

Der Wohlstand hatte seinen Preis. Es ist paradox, dass ausgerechnet jene Partei, die als Inbegriff des Bürgertums gilt, alles dafür tat, die vertraute bürgerliche Welt in Stücke zu hauen. In Sonntagsreden mochte die CDU die Tradition beschwören, doch im Alltag herrschte Brutalismus, nicht nur in architektonischer Hinsicht.

In einer Art informeller großer Koalition mit sozialdemokratischen Landesfürsten und Oberbürgermeistern wurde die Bundesrepublik plattgemacht. Dem Straßen- und Autobahnbau - Wirtschaft und Wachstum verlangten es so - fielen gewachsene Stadtstrukturen, historische Gebäude und ganze Landschaften zum Opfer. Der Mangel an Wohnungen und Studienplätzen ließ menschenfeindliche Trabantenstädte und Massenuniversitäten entstehen. Die gleiche Partei, die das Wort »Heimat« wie eine Monstranz vor sich hertrug, zerstörte diese beschauliche, betuliche Welt ohne sentimentale Skrupel.

Das Alte zerschlagen, sobald es keinen Nutzen mehr hat - das ist das Gegenteil von Konservativismus; das nennt man Kapitalismus. Mit diesem bösen Wort aber hat man in Deutschland noch nie Wahlen gewonnen. Gegen »soziale Marktwirtschaft« hingegen hatten selbst Gewerkschaftsführer nichts einzuwenden. So bewies die Union auch beim Vokabular die nötige Flexibilität. Je nach Situation und Zielgruppe verpasste sie sich das Etikett »konservativ«, »liberal« oder »sozial« - und meinte damit: egal.

Zugleich passte sich die CDU geschmeidig dem Zeitgeist an. Beispiel Bildung: Bereits in den späten 50ern hatten christdemokratische Kultusminister das Schulgeld für Gymnasien abgeschafft. In der Folge stieg der Anteil der Abiturienten stetig an. Als 1964 das Wort von der »Bildungskatastrophe« die Runde machte, halfen Christdemokraten mit, das Schul- und Hochschulwesen zu reformieren. Aus der 8-jährigen Volksschule wurde die 9-jährige Hauptschule, auf der man nun auch Englisch lernte, so dass ein späterer Wechsel aufs Gymnasium möglich wurde. Fach- und Ingenieurschulen wurden zu Fachhochschulen aufgewertet. Parallel dazu stampfte man in Rekordzeit neue Universitäten und Fachhochschulen aus dem Boden. Mit Erfolg: Zwischen 1949, dem Amtsantritt von Konrad Adenauer, und 1969, dem Jahr des CDU-Machtverlusts, vervielfachte sich die Zahl der Studenten, von 89 000 auf 385 000.

Beispiel Religion: In dem Maß, in dem die Bundesdeutschen die heimische Scholle verließen - Studium und Beruf verlangten immer häufiger, dass der Umzugswagen vorfuhr -, vermischten sich die Konfessionen. Die Frage, ob jemand katholisch oder evangelisch war, verlor an Bedeutung. Also löste die Union in den von ihr regierten Bundesländern Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und Bayern Ende der 60er Jahre die Konfessionsschulen auf. Dies geschah gegen den Widerstand der katholischen Kirche, die »den aufgezwungenen Schulkampf als Teil des allgemeinen Kulturkampfes« (ein Bischof in »Echo der Zeit«, 1967) betrachtete. Immer mehr Christdemokraten gingen auf Konfrontationskurs zum Vatikan. Der CDU-Bundestagsabgeordnete und Landesvorsitzende der Jungen Union Rheinland, Alo Hauser, schlug gar antiklerikale Töne an: »Die Union ist kein Erfüllungsgehilfe kirchlicher Wünsche.«

Beispiel Umweltschutz: Nachdem es 1986 in Tschernobyl zu einer Atomkatastrophe gekommen war, rief die Regierung Kohl nur sechs Wochen später das »Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit« ins Leben. Radikalere Gemüter mochten darin nur Symbolpolitik oder Etikettenschwindel sehen, doch jene Bürger, denen nicht der Sinn nach Revolution, sondern nach Reform stand, honorierten diese behutsamen Veränderungen.

Genau darin lag das Erfolgsrezept der Union. Nie war sie die Vorhut des gesellschaftlichen Wandels, doch stets verstand sie es, sich darauf einzustellen. Zumal wenn ihre eigenen Funktionäre diesen privat vollzogen. Spätestens als ein CSU-Vorsitzender sich scheiden ließ (Theo Waigel, 1994) und ein homosexueller CDU-Politiker Spitzenkandidat bei einer Wahl wurde (Ole von Beust, Hamburg, 1997), war der Skandal von gestern die Normalität von heute.

Solche 180-Grad-Schwenks vollzog man ohne viel Aufhebens. Anders als die SPD, der jeder programmatische Wechsel als »Verrat am historischen Erbe« ausgelegt wird, braucht die CDU nur das Adenauer’sche Totschlagargument auszupacken, »Es kann mich doch niemand daran hindern, jeden Tag klüger zu werden« (oft vereinfacht zu: »Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern«), um die eigene Basis zu beschwichtigen.

Während Sozialdemokraten darunter leiden, dass Machtgewinn mit dem Verlust von Idealen einhergeht, ist für Christdemokraten und Christsoziale die Macht an sich das Ideal. Daher sieht die Basis über jede inhaltliche Kehrtwende hinweg, solange diese die Herrschaft sichert.

Nach dem Reaktorunglück in Fukushima 2011 schluckten es die Mitglieder, dass die Union unter Merkel über Nacht von einer Atompartei zu einer Verfechterin der Energiewende wurde - der Zeitgeist verlangte es so. Keine Gnade hingegen kennt man mit Verlierern. Ob Ludwig Erhard, Rainer Barzel, Günther Beckstein oder Annegret Kramp-Karrenbauer, sie alle mussten erfahren, dass die Union ihrem Führungspersonal Niederlagen und Autoritätsverlust nicht durchgehen lässt.

Dessen ist sich auch Reiner Haseloff bewusst. Bei der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt gelang ihm das Kunststück, als CDU-Spitzenkandidat nicht mit der angeschlagenen, unbeliebten Bundes-CDU in Verbindung gebracht zu werden. Indem er sich für CSU-Mann Markus Söder aussprach und zugleich staatsmännisch als Landesvater auftrat, der in seiner Regierung auch mit Roten und Grünen kann, schaffte er Distanz zur eigenen Partei - die Grundlage für seinen klaren Wahlsieg.

Von diesem machtorientierten Opportunismus könnte am Ende sogar Armin Laschet profitieren. Denn Haseloff hat bewiesen, dass die CDU noch Wahlen gewinnen kann. Notfalls sogar gegen sich selbst. Das muss ihr erst mal einer nachmachen.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal