Strafgefangene ersetzen Migranten

Russland will künftig beim Bau von Straßen und Bahngleisen Häftlinge einsetzen

  • Ewgeniy Kasakow
  • Lesedauer: 3 Min.

Auf Großbaustellen, in Goldgruben und überall dort, wo zupackende Hände dringend gebraucht werden: Alexander Kalaschnikow, Direktor des föderalen Strafvollzugsdienstes (FSIN), sorgt mit seinem Vorschlag, russische Gefangene künftig wieder zur Arbeit einzusetzen, für viel Aufregung. Aufgebrachte Kritiker warnen bereits vor einer Neuauflage des sowjetischen Straf- und Arbeitslagersystems. Doch Kalaschnikow winkt ab. »Das wird kein neuer Gulag«, versichert er. Die Häftlinge sollten sich freiwillig für die Mitarbeit an sogenannten nationalen Großprojekten entscheiden können.

Grund für Kalaschnikows Vorstoß ist der große Mangel an Arbeitskräften in Russland. Aufgrund der Corona-Beschränkungen kommen derzeit nur noch wenige Gastarbeiter - mit dem deutschen Lehnwort werden in Russland Arbeitsmigranten bezeichnet - in das Land. Die saisonalen Migrationsströme drohen zu versiegen.

Diesen Ausfall von Arbeitskraft will nun Kalaschnikows föderaler Strafvollzugdienst (FSIN) ausgleichen. Betroffen sind von dem Vorschlag rund 188 000 Häftlinge, die im Rahmen ihrer Strafe arbeiten dürfen - oder müssen. Insgesamt sitzen etwa 482 000 Menschen in Russland im Gefängnis.

Häftlinge, die sich freiwillig zur Arbeit verpflichten, könnten unter anderem bei der Errichtung neuer Schienenstränge oder bei Räumungsarbeiten in der Arktis eingesetzt werden. Besonders anstrengende Tätigkeiten unter klimatisch erschwerten Bedingungen sollen durch erhöhte Löhne honoriert werden. Zudem bekämen Freiwillige, im Vergleich zu Insassen des geschlossenen Strafvollzugs, mehr Freiheiten. Wer sich zur Arbeit meldet, muss künftig auch nicht mehr in Baracken wohnen. Stattdessen sollen anpackende Gefangene in Wohnheimen untergebracht werden. Auch die Möglichkeit, mit der Familie zusammenzuziehen, steht in Aussicht.

Die russische Staatsbahn (RZD) hat bereits Interesse an der Initiative angemeldet und will Gefangene beim Ausbau der Baikal-Amur-Magistrale (BAM) einsetzen. Die 3800 Kilometer lange Bahnstrecke im östlichen Sibirien zählte einst zu den großen Prestigeprojekten der Sowjetunion. Das vom sowjetischen Jugendverband Komsomol ab 1974 vorangetriebene Mammutvorhaben geriet während der Perestroika stark in die Kritik. In den 1990er Jahren wurde über die Stilllegung der Magistrale diskutiert. Nun aber erfordert der zunehmende Rohstoffhandel den Ausbau der Transportwege. An der teilweise unvollendet gebliebenen BAM wird wieder gebaut.

Kalaschnikows Vorstoß wird vom Justizministerium und dem einflussreichen Ermittlungskomitee, einer direkt dem Präsidenten unterstellten Strafverfolgungsbehörde, unterstützt. Laut einer Umfrage des staatlichen Zentrums für Meinungsforschung (WZIOM) befürworten auch 71 Prozent der befragten Russen das Vorhaben. Bereits im Jahr 2015 diskutierte die Duma über den Vorschlag, Gefangene bei Bauarbeiten vor der Fußball-WM 2018 einzusetzen.

Mitte dieses Monats nahm der Vorschlag konkrete Formen an: Am 10. Juni wurden Verträge mit der Baufirma »UK Bamstrojmechanizazija« in der Region Chabarowsk unterzeichnet. Das Unternehmen ist für den Ausbau der BAM zuständig. Auch im Moskauer Gebiet sollen laut Vizeregierungschef Marat Chusnulin bereits Pilotprojekte mit Gefangenen laufen.

Kritiker aus dem Lager der liberalen Opposition monieren unter anderem die niedrige Produktivität von Sträflingsarbeit. Häftlinge seien vor allem durch die Aussicht auf eine vorzeitige Entlassung zum Einsatz auf dem Bau zu bewegen, erklärte etwa die bekannte Politologin Jekaterina Schulmann. Arbeitsmigranten seien dagegen produktiver und stärker zur Arbeit motiviert. Der Grund dafür seien die Familien der Migranten, die in deren Heimatländern auf Überweisungen angewiesen seien.

Russische Menschenrechtsorganisationen verweisen auf ein anderes Problemfeld: Ein Ausgleich des russischen Arbeitskräftemangels durch Gefangene und deren gleichzeitige Resozialisierung in der Haft seien widersprüchliche Ziele. Der Staat bekomme durch den Einsatz der Häftlinge immer mehr Interesse an Nachschub.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal