- Politik
- Linke in Europa
European Forum: To-do-Liste für ein anderes Europa
Um den Frieden ging es am Wochenende beim European Forum in Wien, um Sozialpolitik und Demokratie. Und um ein bisschen Grusel
Es ist ein jährlicher Pflichttermin all jener, die für ein besseres Europa und eine andere EU eintreten: das European Forum of Left, Green and Progressive forces. Geboren 2017 in Marseille – das Weltsozialforum von Porto Alegre stand Pate –, erlebte es am Wochenende in Wien seine inzwischen neunte Auflage. Abgesandte von linken, grünen und sozialdemokratischen Parteien, von Gewerkschaften, Nichtregierungsorganisationen und der Zivilgesellschaft diskutierten über ein anderes Europa und den Weg dorthin. »Für Frieden, soziale und Klimagerechtigkeit« war das Treffen überschrieben.
Die Dichte an politischer Prominenz in Wien war hoch – sie reichte vom britischen Linkspolitiker Jeremy Corbyn über den Vorstandsvorsitzenden der deutschen Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS) Heinz Bierbaum und die stellvertretende Pariser Bürgermeisterin Hélène Bidard bis zum Chef der griechischen Syriza Sokrátis Fámellos und Walter Baier, Präsident der Partei der Europäischen Linken (EL). Die »Dachorganisation« von knapp 50 linken und links-grünen Mitglieds-, Beobachter- und Partnerparteien ist Haupträgerin des European Forum. »Das Treffen ist eine einzigartige Gelegenheit, über die Grenzen von Parteien und Organisationen hinweg gemeinsam über Alternativen für Europa zu beraten und Aktionen zu vereinbaren«, bekräftigte Baier im Gespräch mit »nd«. »Wir wollen die Sparpolitik bekämpfen, der Militarisierung widerstehen und für soziale, wirtschaftliche und ökologische Gerechtigkeit kämpfen.«
Wie nötig das ist, hatte Cornelia Hildebrandt vom linken europäischen Thinktank Transform!Europe gleich zu Beginn des Forums umrissen. Jedes fünfte Kind in Europa wachse in Armut auf, berichtete die Wissenschaftlerin. Und während die obersten zehn Prozent der Europäer zwei Drittel des Gesamtvermögens besäßen, hätte die untere Hälfte nur 1,2 Prozent daran. Trotzdem seien nur 14 Prozent des EU-Haushalts für soziale Maßnahmen wie Armutsbekämpfung, Bildung und Beschäftigung vorgesehen. »All dies geschieht vor dem Hintergrund des Krieges in Europa und der Verschärfung der Klimakrise, die jedes Jahr Milliarden kostet«, so Hildebrandt.
Auch der Österreicher Baier machte in seinem Redebeitrag die Dramatik der Situation klar. Er zitierte den früheren sozialdemokratischen Bundeskanzler Österreichs Bruno Kreisky: »Ein paar Milliarden Schulden beunruhigen mich weniger als Zehntausende Arbeitslose.« Heute allerdings gebe es Hunderttausende Arbeitslose in Österreich und 13 Millionen in ganz Europa, betonte Baier. Und die europäische Industrie stecke in der Krise. Eine Einschätzung, die von RLS-Vorstand Bierbaum sogar noch zugespitzt wurde: Die Ökonomie in der EU sei bedroht, von den USA, von Kriegen und Aufrüstung, von der Klimakrise, so der Wirtschaftsprofessor.
Kampf gegen rechtsaußen
Eng verknüpft, das tauchte in den Diskussionsbeiträgen immer wieder auf, ist die soziale und Klimagerechtigkeit mit dem Kampf gegen rechtsaußen. »Dieser Kampf wird im Bereich der Sozial- und Wirtschaftspolitik gewonnen oder verloren«, betonte EL-Präsident Baier. Die wachsende Unsicherheit bis weit in die soziale und politische Mitte hinein bereite den Boden für rechtspopulistische und rechtsextreme Kräfte und Parteien. Bereits heute ist die radikale Rechte in einem Drittel der EU-Länder an der Regierung beteiligt, nach den Wahlen in Tschechien stellt sie nun in fünf Staaten die Regierungschef*in. Das »grauenhafte Erstarken der Rechtsextremen« (Corbyn) sei wesentlich dem Rückbau der Sozialpolitik geschuldet. Und Marcus Strohmeier, internationaler Sekretär des Österreichischen Gewerkschaftsbunds (ÖGB), nahm im Gespräch mit »nd« direkt Bezug auf die jüngste Wahl in der Niederlande: Dass die linksliberale D66-Partei siegte und Geert Wilders rechtspopulistische PVV auf Platz zwei verweisen konnte, sei der Fokussierung der D66 auf soziale Fragen und insbesondere Wohnungsnot und hohe Mieten zu verdanken.
Bezahlbares Wohnen für alle war nahezu folgerichtig ein zentrales Thema des Wiener Forums. Jeder zehnte Haushalt gebe mehr als 40 Prozent seines Einkommens für Wohnkosten aus, hatte Hildebrandt auf dem Forum konstatiert. Die EL hat das sogenannte Housing zu einem Schwerpunkt ihrer politischen Arbeit und von Aktionen gemacht, in Wien widmete sich gleich eine ganze Plenarsitzung dem Thema. Aktivist*innen berichteten von jüngsten Steigerungen bei Wohnkosten von 15 Prozent in Portugal oder 12 Prozent in Kroatien. Insgesamt seien diese Kosten in Europa seit 2010 um 60 Prozent gestiegen.
Erfahrungen aus dem »roten Wien«
Natürlich waren in diesem Zusammenhang die Erfahrungen Österreichs und der Stadt Wien gefragt, wo die Gewährleistung bezahlbaren Wohnens besser funktioniert als in anderen Staaten und Großstädten. Gegenüber »nd« sagte ÖGB-Funktionär Strohmeier, das »rote Wien« sei noch immer lebendig, was sich gerade beim Thema Miete zeige. »Gerade mit unserem Genossenschaftsmodell wenden wir uns an die Arbeitnehmer*innen und versuchen gemeinsam mit der Gemeinde Wien, die Preise im Griff zu behalten.« Denn auch dort seien die Mieten in den vergangenen Jahren um 30 bis 40 Prozent gestiegen. Inzwischen gäben sich Vertreter*innen anderer Städte quasi die Klinke in die Hand, um das »Wiener Modell« zu studieren.
Überhaupt spielten positive Beispiele auch in den anderen Runden – die sich unter anderem mit dem Kampf gegen Austeritätspolitik und Militarisierung, mit Feminismus, Nahost, der Rolle von Gewerkschaften, Feminismus und dem Erhalt der Demokratie beschäftigten – eine Rolle. So berichtete eine zyprische Gewerkschafterin über die Zusammenarbeit über die Teilungslinie der Insel hinweg; ein französischer Aktivist über eine lokale Initiative gegen giftige Dämpfe aus einer Fabrik. Die Klimaaktivistin Phili Kaufmann stellte das Projekt »Wir Fahren Gemeinsam« vor, mit dem gerade für Beschäftigte im Verkehrssektor, insbesondere Busfahrer*innen, bessere Arbeitsbedingungen erkämpft werden sollen. Gegenüber »nd« berichtete sie: »Das ist eine Kampagne, die zwei extrem wichtige Fragen unserer Zeit zusammenbringt – nämlich die soziale Frage der Arbeiter*innenklasse und die Klimaproblematik. Das Zusammengehen mit den Beschäftigten sei «der einzige Weg, um sowohl auf der sozialen Schiene wie bei der Umweltpolitik voranzukommen».
Der rote Faden: Frieden
Natürlich zog sich die Friedensfrage wie ein roter Faden durch alle Plenarsitzungen und Workshops. Dazu gehörten auch Debatten über den russischen Krieg in der Ukraine, bei denen sich die Teilnehmer*innen – trotz unterschiedlicher Ansichten, wie weit die Unterstützung der Ukraine gehen sollte – einig waren, dass dieser schnell und auf diplomatische Weise beendet werden muss. Nahezu einhellig wurde Israels Vorgehen in Gaza verurteilt und die Solidarität mit der palästinensischen Bevölkerung bekundet. «Wir lehnen die Logik von Blöcken, Aufrüstung und Militarisierung ab», heißt es in der Schlusserklärung des Treffens. «Wir bekräftigen unser Engagement für die Verhandlungslösung von Konflikten.» Weitere Punkte sind die Forderung nach Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums, einer gerechten, demokratischen und sozial fortschrittlichen Energiewende und der Schutz demokratischer Rechte, insbesondere der Frauenrechte.
Damit steht das in Wien beschlossene Abschlussdokument in der Tradition der vorangegangenen Foren von Marseille bis Budapest 2024. Ein Schmankerl hatte allerdings die Junge Linke Österreich dem diesjährigen Forum hinzugefügt: Am ehrwürdigen Sitz des linken europäischen Thinktanks Transform!Europe hatten die Jungkommunisten eine Halloween-Party organisiert und die Teilnehmer*innen des European Forum eingeladen. Wer den ausgeschriebenen ersten Preis für das gruseligste Kostüm gewonnen hat, war jedoch nicht aufzuklären.
Wir sind käuflich. Aber nur für unsere Leser*innen.
Die »nd.Genossenschaft« gehört ihren Leser*innen und Autor*innen. Sie sind es, die durch ihren Beitrag unseren Journalismus für alle zugänglich machen: Hinter uns steht kein Medienkonzern, kein großer Anzeigenkunde und auch kein Milliardär.
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ unabhängig und kritisch berichten
→ übersehene Themen aufgreifen
→ marginalisierten Stimmen Raum geben
→ Falschinformationen etwas entgegensetzen
→ linke Debatten voranbringen
Mit »Freiwillig zahlen« machen Sie mit. Sie tragen dazu bei, dass diese Zeitung eine Zukunft hat. Damit nd.bleibt.