Wie man die Sonne trinkt

Kunst für Biomassengerechtigkeit: Zheng Bo aus Hongkong im Martin-Gropius-Bau in Berlin

  • Tom Mustroph
  • Lesedauer: 5 Min.

Ungerechtigkeiten gibt es eine ganze Menge. Als 2011 Joseph Stiglitz, Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften, publik machte, dass das reichste 1 Prozent der US-Bevölkerung ein Viertel allen Reichtums in den Vereinigten Staaten sein eigen nennen durfte, inspirierte das die Bewegung Occupy Wall Street zu dem Slogan: »Wir sind die 99 Proznet«. Die Mehrheit also, die aber nicht am Reichtum beteiligt ist.

Der aus Hongkong stammende Künstler Zheng Bo spitzt diese Beobachtung noch zu, indem er den Bereich des »Wir« auf alles Lebende erweitert, über die Menschheit hinaus auf Tierwelt und Pflanzen, bis hin zu Bakterien und Viren. »Von der gesamten Biomasse der Erde macht die Menschheit nur 0,01 Prozent aus«, sagt er. Menschen sind also eine verschwindend kleine Minderheit unter allem Lebendigen auf diesem Planeten. Und damit sie sich daran erinnern, hat er in Berlin im Ausstellungsraum der Schering-Stiftung Unter den Linden Grassamen so ausgesät, dass das sprießende Grün den Satz »You are the 0,01%« (Ihr seid die 0,01%) auf den Boden schreibt. Laut Zheng Bo verbrauchen diese 0,01 Prozent der Biomasse der Erde 30 Prozent ihrer Ressourcen. Seine Installation soll auf dieses Missverhältnis aufmerksam machen. »Wir sind es gewohnt, auf die Ungleichheiten unter uns Menschen zu schauen. Ich will aber auch die globale Perspektive einbringen«, beschreibt er sein Anliegen.

Die Monate der Pandemie verbrachte Zheng Bo in Berlin, als Stipendiat des Gropius-Baus. Dort ist parallel zur Installation in der Schering Stiftung auch seine Ausstellung »Wanwu Council« zu sehen. Sie besteht aus mehreren Elementen. Den größten Umfang nehmen Zeichnungen ein, die der Künstler täglich anfertigt. Er zeichnet Pflanzen aus seiner näheren Umgebung. Viele Pflanzen aus Hongkong sind zu sehen. Die Megacity beherbergt eine überraschende Diversität an Pflanzen. »Es gibt mehr als 2 000 Arten. Ich kenne vielleicht 200 davon«, erzählt Zheng Bo.

Neben der Vegetation von Hongkong zeichnete der Künstler auch Details jener Platanen, die rings um den Gropius-Bau aus dem Pflaster herausdrängen. »Gropius Hain« nennt er das Arrangement dieser Bäume. Das Zeichnen ist für ihn weniger künstlerische Tätigkeit als eine Möglichkeit, gut mit den Pflanzen Zeit zu verbringen. »Die Zeichnungen, die dabei entstehen, sind eigentlich nur Beiwerk. Das Wichtigste für mich ist, überhaupt bei den Pflanzen zu sein. Aber ich kann da nicht für eine halbe Stunde sitzen und nichts tun. Also zeichne ich sie«, erklärt er.

Viele Stunden muss er so verbracht haben. Davon legen die vielen Zeichnungen Zeugnis ab. Zheng Bo hat auch noch andere Rituale für den Umgang mit Pflanzen entwickelt. Das belegen Videoarbeiten in der Ausstellung. Darin ist der Künstler zu sehen, wie er Bäume umrundet. Manchmal begleiten ihn dabei noch andere Personen, gelegentlich sind die Menschen auch mit Bändern mit dem Baumstamm verknüpft. Für die gesamte Dauer der Ausstellung lädt Zheng Bo ausdrücklich Besucher ein, mitzumachen. »Eine der Übungen heißt ›Die Sonne trinken‹. Ein russischer Künstler machte mich damit vertraut. Man blickt in die Sonne und atmet tief ein. Man kann förmlich spüren, wie Energie in den Körper einströmt«, sagt er.

Von der Wirkung überzeugen kann sich jeder selbst. Zheng Bo macht bei der Beschreibung dieser Praktiken nicht den Eindruck eines Fantasten oder eines Gurus einer Natursekte. Vielmehr dienen ihm die Übungen dazu, die Sensibilität der Wahrnehmungen zu verfeinern. Und er wirft andere Blicke auf das Verhältnis zwischen Menschen und Pflanzen. Er sieht diese Welten nicht strikt voneinander getrennt, sondern symbiotisch verbunden. »Die Energie auf der Erde wird zu großen Teilen über Photosynthese hergestellt. Ursprünglich erfolgte dies bei Cyanobakterien. Später entwickelte sich die Photosynthese bei Pflanzen. Man kann die Pflanzen auch als Gastgeber der Bakterien bezeichnen. Den Sauerstoff, der so produziert wird, benötigen wir Menschen für unseren Energiehaushalt. Alles ist mit allem verbunden«, meint Zheng Bo.

Seine Beschäftigung mit Pflanzen begann 2013. »Ich war damals zu einer Aktion in einem alten Fabrikgebäude in Shanghai eingeladen. Ich besichtigte den Ort und war von den wilden Pflanzen beeindruckt, die alles überwuchert hatten. Die Veranstalter wollten die Pflanzen loswerden. Ich dachte aber über ein Projekt nach, das sie schützte«, blickt er zurück. Daraus ist ein ganzes Arbeitsfeld entstanden. Im letzten Jahr stellte er im Gropius-Bau seine Videoarbeit »Pteridophilia« vor. Darin sieht man nackte oder nur spärlich bekleidete Menschen durch Wälder streifen und zärtlichen, ja erotischen Kontakt mit Pflanzen aufnehmen. »Ecosex« nennt sich diese Spielart von Sensibilität und Erotik.

2008 machten die feministischen Performance-Künstlerinnen Annie Sprinkle und Elizabeth Stephens mit ihrem »Ecosex«-Manifest erstmals darauf aufmerksam. Auf diese Pionierinnen stieß Zheng Bo allerdings erst nach seinen ersten eigenen Versuchen. Er betont, dass es ihm dabei um Verfeinerung der Wahrnehmung gehe. Menschen, die Pflanzen in erster Linie als Sexspielzeug sähen, hätte er beim Casting für seine Videoarbeit ausgeschlossen, versichert er.

Mit seinen Arbeiten passt der Hongkonger Künstler perfekt in eine Zeit, in der eine Virus-Pandemie neu über das Zusammenleben von Menschen und anderen Lebensformen nachdenken lässt und der vom Menschen mitverursachte Klimawandel die Bedingungen für alle Lebewesen massiv zu verändern droht. Eingebettet in das Ausstellungsprogramm sind mit Kamera aufgezeichnete Spaziergänge und Gespräche mit Wissenschaftler*innen verschiedenster Disziplinen. Zuweilen schlägt Zheng Bo darin Widerspruch zu einzelnen Thesen entgegen. Das Anliegen der Sensibilisierung für die Welt der Pflanzen wird aber stets positiv aufgenommen.

Gropius-Bau bis 23.8., Schering Stiftung bis 30.9.

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