Die Hoffnung heißt Wembley

Nach dem 2:2 gegen Ungarn soll für die deutschen Fußballer alles besser werden

  • Maik Rosner, München
  • Lesedauer: 4 Min.

Am Tag danach stand Erholung auf dem Programm - und diese schien für die deutsche Nationalmannschaft vor allem nervlich äußerst nötig zu sein. Geradeso war sie am Mittwochabend in einem wilden Spiel samt sintflutartiger Regenfälle und tosender Winde dem drohenden EM-Aus entgangen, das auch das abrupte Ende der Ära von Bundestrainer Joachim Löw bedeutet hätte. Es war, als habe der Himmel die Dramatik noch zusätzlich auf die Spitze treiben wollen. Umso wichtiger schien nun die Ruhe nach dem Sturm im deutschen Quartier in Herzogenaurach zu sein.

Doch auch schon direkt nach dem mühsam erkämpften 2:2 (0:1) gegen den Außenseiter Ungarn hatte sich rasch eine fast schon verblüffende Zuversicht eingestellt vor der Reise nach London zum Achtelfinale am Dienstag gegen England im Wembleystadion. In erster Linie allerdings nicht wegen der eigenen Leistung, sondern wegen der Qualität des kommenden Gegners, der besonderen Motivation in diesem Klassiker und auch der historischen Spielstätte. »In Wembley gegen England zu spielen, ist etwas ganz Großartiges. Da freuen wir uns brutal drauf und werden bereit sein«, sagte Leon Goretzka am Donnerstag.

Erst durch das späte 2:2 des eingewechselten Bayern-Profis in der 84. Minute war das nächste Aus in der Gruppenphase nach jener bei der WM 2018 abgewendet worden. Zweimal hatte die deutsche Mannschaft zuvor zurückgelegen. Zunächst durch Adam Szalais Kopfball nach elf Minuten. Später durch Andras Schäfer (68.), als Ungarn die deutsche Mannschaft direkt nach dem Anstoß im Anschluss an den Ausgleich von Kai Havertz (66.) übertölpelt hatte. »Das darf natürlich niemals passieren, wenn du bei einem Turnier etwas erreichen willst«, sagte Goretzka über die kollektive Unaufmerksamkeit. Auch Joshua Kimmich monierte: »Wir machen einfach zu viele Fehler, standen auch bei Ballbesitz nicht gut genug.« Zudem habe man sich »brutal schwer getan«, Chancen herauszuspielen.

Das zog sich tatsächlich durch das gesamte Spiel, wie schon beim 0:1 gegen Frankreich. Auch diesmal fehlte es an der sogenannten Durchschlagskraft, sowohl auf den Flügeln als auch im Zentrum. Und auch diesmal wurde die deutsche Elf mehrfach ausgekontert. Wie zu Beginn, als sie den dritten 0:1-Rückstand im dritten EM-Spiel hinnehmen musste. Nur beim 4:2 gegen Portugal hatte es danach noch zu einem Sieg gereicht, der manche Defizite überdeckte und von der ebenfalls sehr anfälligen Defensive des amtierenden Europameisters begünstigt wurde.

Kimmich hofft, »dass wir jetzt endlich im Turnier angekommen sind«. Der Münchner stand exemplarisch für die Turbulenzen des Spiels gegen Ungarn und die Notmaßnahmen, die Löw ergriffen hatte, darunter den Systemwechsel von Dreier- auf Viererkette. Mehrfach wurde er dabei verschoben: Zunächst von rechts offensiv in die Mitte hinter den Spitzen, dann auf die defensivere Sechs und schließlich nach hinten rechts. Allein für sein beachtlich bestandenes Multitasking hatte sich der 26-Jährige die offizielle Auszeichnung als Mann des Spiels verdient. Insgesamt sprach der auch im übertragenen Sinne ziemlich schaurige Mittwochabend aber nicht für die deutsche Mannschaft.

Der wichtigste Jubel dieser EM - ZIRKUS EUROPA freut Leon Goretzkas Geste vor Ungarns Fans mehr als dessen Tor.

Als verheißungsvoll für den weiteren Verlauf dieser EM ließen sich allenfalls jene eher zufälligen Umstände deuten, durch die die deutsche Elf auf die vermeintlich leichtere Hälfte des Turnierbaums gehievt wurde. Sollte sie gegen England weiterkommen, träfe sie danach im Viertelfinale in Rom am 3. Juli auf Schweden oder die Ukraine. Fürs Halbfinale am 7. Juli in London stünden die Niederlande, Wales, Dänemark und Tschechien zur Auswahl. Die vermeintlich kniffligsten Aufgaben gegen Frankreich, Portugal, Spanien, Italien und Belgien kämen erst im Finale am 11. Juli auf die deutsche Mannschaft zu, ebenfalls im Wembleystadion.

Doch zunächst einmal soll Löws Serie von zwei Siegen und einem Unentschieden in Englands Fußballheiligtum eine Fortsetzung finden. »Das ist jetzt ein absolutes Highlight«, sagte der Bundestrainer und gelobte Besserung: »Wir werden gut vorbereitet sein und anders auftreten, das kann ich versprechen.« Es werde »ein ganz anderes Spiel«. Das erwartet auch Torwart Manuel Neuer. Der Kapitän bezog seinen Optimismus ebenfalls aus der jüngeren Vergangenheit. »Wembley liegt uns«, sagte er. Und man habe »trotzdem Selbstvertrauen, auch wenn wir 2:2 gegen Ungarn gespielt haben«. Dieses Vertrauen wurde allerdings auffallend oft mit der Stärke des Gegners und dessen Stadion begründet, mit dem erhofften Wembley-Effekt. Das Spiel gegen Ungarn eignete sich ja auch eher nicht als Begründung für die Selbstgewissheit.

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