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  • Delta-Variante in Großbrittannien

Johnsons großes Experiment

Großbritanniens Premier lässt trotz steigender Inzidenz die Masken fallen

  • Peter Stäuber, London
  • Lesedauer: 4 Min.

»Wann, wenn nicht jetzt?« Der Sommer ist da, die Schulferien beginnen bald - kein Moment sei besser, um die Covid-Einschränkungen endlich über Bord zu werfen und zum Alltag überzugehen. So bestätigte der britische Premierminister Boris Johnson am Montag in seiner mit Spannung erwarteten Fernsehansprache, dass in England voraussichtlich am 19. Juli praktisch alle Beschränkungen des öffentlichen Lebens aufgehoben werden. Damit geht Johnson weiter als der Rest Europas: Nirgendwo wird das öffentliche Leben so uneingeschränkt sein wie in England.

Johnson hat klargemacht, dass einer Öffnung nichts im Wege steht. So werden ab dem 19. Juli keinerlei Einschränkungen des sozialen Kontakts mehr gelten: Man muss keinen Abstand zu seinen Mitbürgern mehr halten, man darf sich in Innenräumen und im öffentlichen Verkehr ohne Mund-Nasen-Schutz bewegen. Zudem werden Nachtclubs ihre Türen öffnen, und zu Konzerten, Theateraufführungen und Sportanlässen dürfen Besucher ohne Kapazitätsbegrenzung kommen. In Pubs kann man sich sein Bier wieder wie gewohnt an der Bar bestellen, anstatt am Tisch auf die Bedienung zu warten.

England - Schottland und Wales wollen vorsichtiger vorgehen - verabschiedet sich damit von den rechtlich vorgeschriebenen Beschränkungen, die seit über einem Jahr gelten. Stattdessen werden »die Leute ihre eigenen Entscheidungen treffen können, wie das Virus eingedämmt werden soll«, wie Johnson sagte. Gesundheitsminister Sajid Javid hatte bereits am Wochenende erklärt: »Wir müssen lernen, die Existenz von Covid zu akzeptieren, und Wege finden, uns damit zu arrangieren - genau wie wir es mit der Grippe tun.«

Bei vielen Parteikollegen, die seit langer Zeit ein Ende der Covid-Restriktionen fordern, hat die Regierung Begeisterung ausgelöst - »Halleluja!«, riefen manche Tory-Abgeordneten im Unterhaus. Noch vor zwei Monaten hätten viele Briten dieses Gefühl geteilt. Aber dass Johnson gerade zum jetzigen Zeitpunkt auf Lockerung drängt, hat vielerorts für Unverständnis gesorgt: Großbritannien steht am Anfang einer dritten Welle, jeden Tag steigen die Fallzahlen, die Sieben-Tage-Inzidenz liegt derzeit bei 230 Fällen pro 100 000 Einwohner. Alle neun Tage verdoppelt sich die Zahl der Neuinfektionen. Professor Stephen Reicher von der Universität St. Andrews sagte, es sei »beängstigend, dass wir einen Gesundheitsminister haben, der noch immer denkt, Covid sei eine Grippe«, und der »allen Schutz aufgeben will, wenn erst die Hälfte der Bevölkerung geimpft ist«.

Professorin Susan Michie, die am University College London unterrichtet und im Beraterstab der Regierung sitzt, hat auf die Gefahr durch neue Mutationen hingewiesen: Wenn sich das Virus uneingeschränkt in der Bevölkerung verbreiten könne, dann sei das etwa so, als wenn man in kürzester Zeit lauter neue »Varianten-Fabriken« baue.

Die Regierung scheint jedoch bereit, all diese Risiken einzugehen. Gesundheitsminister Javid räumte am Dienstag ein, dass im Lauf des Sommers bis zu 100 000 Neuinfektionen registriert werden könnten - weit mehr als in der bisher größten Welle im Januar. Er und Johnson setzen darauf, dass die Zahl der Hospitalisierungen und Todesfälle dank des Impfprogramms dennoch auf einem niedrigen Niveau gehalten werden können.

Der Epidemiologe Neil Ferguson sagte am Dienstag, im schlimmsten Fall könnten es sogar 200 000 tägliche Neuinfektionen sein. Ob in einem solchen Fall die Impfkampagne eine Überlastung der Krankenhäuser verhindern könne, müsse man erst noch sehen - Ferguson spricht von einem »Experiment«.

Besonders viel Kritik hat die Regierung in London für die Ankündigung geerntet, die Maskenpflicht aufzugeben. Virologe Stephen Griffin sprach von einem »Rezept für ein Desaster«. Insbesondere Angestellte in Verkaufsläden sowie in Zügen und Bussen würden sich so einem großen Risiko aussetzen.

Im Prinzip läuft die Strategie der Regierung darauf hinaus, eine Art Herdenimmunität zu erreichen - diesen Plan verfolgte Johnson im Frühling 2020 für kurze Zeit, musste ihn aber nach einem öffentlichen Aufschrei der Empörung schnell fallen lassen. Der Unterschied heute ist, dass bereits die Hälfte der Bevölkerung zwei Impfdosen erhalten hat; die Immunität soll sich entweder durch die Impfung oder - bei jüngeren Leuten - die Ansteckung und Genesung einstellen. Die Delta-Variante wird diese Entwicklung beeinflussen: Studien aus Israel zeigen, dass auch zweimal Geimpfte die Mutante weiterverbreiten können.

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