Die Affen sind immer die anderen

Eine Ethnologin erzählt von den Fallstricken ihrer Forschung

  • Thomas Wagner
  • Lesedauer: 4 Min.

Gibt es Kannibalismus in Europa? Als die Ethnologin Heike Behrend von ihrem afrikanischen Gesprächspartner im Westen Ugandas diese Frage vor fast 20 Jahren gestellt bekommt, erwidert sie, dass es während Hungersnöten vereinzelt solche Fälle gegeben habe, das Phänomen aber nicht massenhaft in Erscheinung getreten sei. Im April 2004 erhält sie von demselben Mann einen Brief. In dem Umschlag steckt ein Ausschnitt aus einer ugandischen Zeitschrift, in dem es um den »Kannibalen von Rotenburg« geht.

Zwei Jahre zuvor war ein Polizeibeamter, der das Internet nach Kinderpornografie durchsuchte, auf die Anzeige eines Mannes gestoßen, der offenbar jemanden zu finden versuchte, der sich von ihm töten und verspeisen ließe. Bei der anschließenden Hausdurchsuchung entdeckte die Polizei menschliche Leichenteile im Kühlschrank und außerdem ein Video, das zeigte, wie das Opfer getötet und zum Teil tatsächlich aufgegessen worden war. Wer gehört zu den Wilden, wer zu den Zivilisierten? Im Zuge ihrer langjährigen Praxis als Wissenschaftlerin hat Behrend beobachtet, wie schnell die scheinbar eindeutigen Kategorien ihrer Disziplin ins Schwimmen geraten, wenn Menschen, deren Sitten und Gebräuche erforscht werden sollen, den Spieß umdrehen und sich mit eigenen Interpretationen zu Wort melden.

Als die junge Wissenschaftlerin 1978 aufbricht, um in dem 15 Jahre zuvor unabhängig gewordenen Kenia auf den Spuren der klassischen Ethnografie zu wandeln, ist sie auf der Suche nach Traditionen, die vom Kolonialismus noch unberührt sind. Im Laufe der Zeit, die sie mit ihrem damals siebenjährigen Sohn Henrik, einem antiautoritär erzogenen Westberliner Kinderladenkind, in den Tugenbergen verbringt, wird die Forscherin ihrerseits von den Einheimischen begutachtet und bewertet. »Seit Langem erreichen wechselseitige Informationen und Wissen übereinander die Peripherien unserer Welt«, merkt die Autorin an in ihrer preisgekrönten Autobiografie an. Auf der einen Seite wurden die von Reisenden, Missionaren und schließlich von Ethnografen beschriebenen afrikanischen »Ureinwohner« nicht selten als rückständige Wilde beschrieben, die den westlichen Zivilisationsstandards nicht zu entsprechen verstanden. Auf der anderen Seite machten sich die so ihrer Würde beraubten Menschen ihrerseits über das in ihren Augen abseitige Verhalten der Fremden lustig.

Auch Behrend muss sich damit auseinandersetzen, dass sie von den Ältesten, mit denen sie ins Gespräch zu kommen versucht, um vermeintlich ursprünglichen Traditionen auf die Spur zu kommen, zunächst mitnichten als gleichwertige Dialogpartnerin betrachtet wird. Denn sie ist noch nicht einmal in der Lage, die Sprache der Ansässigen einigermaßen anständig zu sprechen. Das Kalentjin besitzt fünf verschiedene, bedeutungstragende Tonhöhen - wer diese nicht richtig trifft, drückt im schlimmsten Fall das glatte Gegenteil von dem aus, was er sagen will. »Einmal versuchte ich einen Mann mit freundlichen Worten zu begrüßen, doch was ich sagte, war eine Beleidigung.«

Abgelehnt wird die Forscherin auch, weil es sich für eine junge Frau nicht gehört, einem älteren Mann Fragen zu stellen, und weil sie nicht in der Lage scheint, die einfachsten Tischsitten einzuhalten. Als Nachkriegskind war sie dazu erzogen worden, aufzuessen, was auf den Teller kommt. Als sie genau das tut, begeht sie im Hause des Häuptlings einen doppelten Fauxpas. Denn zum einen bedeutet ein vollständig geleerter Teller, dass der Gast nicht satt geworden ist, zum anderen sind die Reste jener Anteil der Mahlzeit, die der Frau und den Kindern des Hauses zugestanden werden.

Den Eindruck, nicht der zivilisierten Welt zu entstammen, bestärkt die Ethnologin mit ihrer Frisur. Kleine Kinder weinen oder schreien bei ihrem Anblick. Die Erklärung ihrer Mütter: Behrend sehe mit ihren langen, ungeordneten Haaren aus wie ein Monster aus der Wildnis. Die Ältesten wiederum, bei denen sie am Ende so etwas wie Narrenfreiheit genoss, bezeichneten sie als »Affe«. Behrend erkennt darin nicht nur eine Reaktion auf ihr »ungebührliches« Verhalten. Ihre Gastgeber gaben zurück, was sie in der Kolonialzeit erfuhren, als ihre Ahnen von einer überheblichen weißen Herrenschicht »Affen« genannt worden waren.

Heike Behrend: Menschwerdung eines Affen. Eine Autobiografie der ethnografischen Forschung. Matthes & Seitz, 278 S., geb. 25 €.

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