Leichtfüßig, stolz, diskriminiert

Die indigenen Rarámuri versuchen im Norden Mexikos ein Leben zwischen Tradition und Großstadt

  • Kathrin Zeiske, Ciudad Juárez
  • Lesedauer: 8 Min.

Candelaria Gutiérrez checkt ihren Facebook-Account. Unter ihrem Kleid aus üppigem Stoff hat sie die Beine übereinandergeschlagen. Auch die Bluse ist aus dem gleichen knallroten Stoff mit weißen und blauen Blumen, abgesetzt mit schwarz gestickten Rändern. »Cande«, wie sie meistens genannt wird, hat es selbst genäht, wie alle ihre Kleider, seit sie sich mit zwölf Jahren zum ersten Mal unter Anleitung ihrer Mutter an die Nähmaschine setzte. »Nicht perfekt geschnitten, aber immerhin«, erinnert sie sich lächelnd an ihr erstes Werk.

Heute hat sie selbst drei Kinder und gehört mit ihren 25 Jahren der ersten Generation der Colonia Tarahumara an, die in einer indigenen Enklave am Rande der Sierra de Juárez aufgewachsen ist, hoch über den Zwillingsstädten Ciudad Juárez, Mexiko, und El Paso, Texas. Über den neuen Schulgebäuden prangen weiße Riesenbuchstaben auf dem roten Fels. »Ciudad Juárez: Lies die Bibel, denn sie spricht die Wahrheit.«

In der Kosmovision der Rarámuri, was übersetzt aus der uto-aztekischen Sprache die »Leichtfüßigen« heißt, mischt sich prähispanischer Glaube mit dem katholischen. Es gibt ein Wort, das steht gleichermaßen für »Teufel« und »Weißer«: »Chabochi«. In der mexikanischen 1,5 Millionen Einwohner zählenden Metropole leben die Rarámuri inmitten der Chabochis. Nach anhaltendem Widerstand gegen die spanischen Konquistadoren, von denen sie »Tarahumara« genannt wurden, hatten sich die Rarámuri in die abgeschiedenen Schluchten der Sierra de Chihuahua zurückgezogen.

An die unendlichen Pinienwälder und außergewöhnlichen Felsformationen erinnert in der migrantischen Gemeinde am Rande der Großstadt nur eine große Fototapete in der öffentlichen Bibliothek. Von dem am Hang gelegenen Viertel, das kreisförmig um eine weiß getünchte Lehmkirche und ein Basketballfeld gebaut ist, hat man einen atemberaubenden Blick auf das Ballungsgebiet. In der Ferne sind die hohen Bankgebäude von Downtown El Paso zu sehen, der Grenzstreifen sowie ein riesengroßes rotes X, das Wahrzeichen von Ciudad Juárez, das trotzig für die mexikanische Identität steht. Kinder und Jugendliche spielen in der Colonia Tarahumara auf der Straße, und kaum ein Auto fährt in das Viertel hinein. In anderen Stadtteilen der Metropole wäre das undenkbar.

Cande verlässt das Viertel nur, um zu arbeiten. Allerdings hat sie schon überall gearbeitet. Im Restaurant, als Putzkraft und zuletzt in der Maquila Flextronic, einer der rund 300 Montagefabriken direkt an der Grenze zur USA. Eine Stunde ist Cande dafür unterwegs, zuerst mit einem der röhrenden alten US-Schulbusse, die als öffentliche Verkehrsmittel dienen. Dann mit dem gleichen Busmodell in Weiß, auf dem in schwarzen Lettern »Personal-Transport« steht. Zu einer Fließbandarbeit, die herausfordernd für sie ist.

Die Schicht in der großen modernen Montagehalle mit laut summender Klimaanlage und gleißendem Neonlicht ist schnell getaktet. Cande muss die ganze Zeit stehen, um Autokabel für den US-Markt ineinander zu stecken. »Nur eine halbe Stunde gibt es zum Essen.« Doch die größte Umstellung für sie ist, dass ihre traditionelle Kleidung in der Fabrik nicht erlaubt ist. »Die ersten Male habe ich mich unglaublich geschämt, eine Jeans anzuziehen.« Auch nach anderthalb Jahren kam sie sich immer noch verkleidet vor.

In der Colonia Tarahumara tragen alle Frauen die in vielen Falten liegenden bunten Röcke mit ebenso ausladenden Blusen im gleichen Stoff darüber. An Feiertagen in der Gemeinde werden Wettläufe veranstaltet - die Gewinnerin erhält ein neues Kleid. Aber sich mit indigener Kleidung in der Industriemetropole mit US-amerikanischen Einflüssen zu bewegen, ist noch immer ein stiller alltäglicher Protest. »Und den leisten nur die Frauen«, erklärt Rosalinda Guadalajara, eine Rarámuri-Gemeinderätin, die zunächst in die Fußstapfen ihres Vaters trat und anschließend als erste Indigene in die Stadtverwaltung einzog.

Für die Rarámuri ist das nicht weiter verwunderlich. Die Frauen sind nach ihrem Verständnis die stärkeren Wesen, denn sie gebären Kinder und besitzen deswegen vier Seelen und nicht nur drei wie die Männer. Fast alle Rarámuri-Männer tragen westliche Kleidung in Ciudad Juárez und arbeiten als Bauarbeiter in der stetig in die Wüste hineinwachsenden Stadt.

Wie in vielen indigenen Gemeinschaften ist aber auch Alkoholismus und Arbeitslosigkeit ein Problem. Hunderte Jahre Unterdrückung und Entwurzelung haben zu gravierenden sozialen Problemen geführt. Empörung über die alltägliche Diskriminierung wird nur selten laut. Doch als es ausgerechnet Rosalinda Guadalajara traf, ging diese Meldung um die Welt. In der legendären Kentucky Bar wurde ihr der Zugang verweigert, weil sie Huaraches, indigene Sandalen aus Lederbändern, trug. Dort, wo einst der berühmte Cocktail Margarita erfunden wurde und unweit der Grenzbrücke sämtliche US-Berühmtheiten von Al Capone bis Janis Joplin verkehrten. Auch heute ist die Juárez-Allee eine Ausgehmeile, auch wenn der Großteil des Publikums mexikanischstämmige Grenzbewohner sind und sich angesichts der Angst vor Gewalttaten und der Pandemie nur vereinzelte Grüppchen weißer US-Amerikaner über die Grenze trauen.

Angehörige der Rarámuri sind in der Fußgängerzone von Juárez meist nur an ihren Straßenständen zu finden, wo sie Kunsthandwerk, Heilkräuter und Pomaden verkaufen. Eine indigene Politikerin, die mit mestizischen Kollegen am Feierabend einen Trinken geht, passte nicht ins Bild der Türsteher in der Kentucky Bar. »Doch das ist zufriedenstellend geklärt worden«, wischt Rosalinda Guadalajara das Thema souverän vom Tisch. Nach dem Rechtsverständnis der Rarámuri ist es nur zweitrangig, dass ein Täter bestraft wird, wichtig ist vor allem, dass die Betroffenen für ein geschehenes Unrecht entschädigt werden.

Es gibt ein Verbrechen, das bis heute für Verbitterung in der Colonia Tarahumara sorgt, auch wenn ein Urteil gegen Uniformierte erfolgte, was in Mexiko selten ist. Vor sechs Jahren wurde der junge Familienvater und Marathonläufer Efraín »Ramiro« Jaris grundlos von einer Polizeistreife vor der Suppenküche für Schulkinder aufgegriffen und zusammengeschlagen. Einen Tag zuvor hatte seine kleine Tochter die Kindergartenzeit beendet, was in der Gemeinde gefeiert wurde. Als sich Ramiro gegen die Schläge der Beamten wehrte, verschleppten sie ihn und traten ihn auf dem Highway hinter dem Viertel zu Tode.

»Es hatte schon vorher manchmal Probleme mit der Polizei gegeben, aber der Mord an Ramiro hat uns schwer getroffen«, erklärt Rosalinda Guadalajara. Die Beamten Héctor Holguín und Josué Cerecedo wurden 2017 zwar zu 23 Jahren Haft verurteilt. Ramiros Witwe muss aber nun ihre kleine Tochter alleine durchbringen. Im Rechtsverständnis der Rarámuri sollten die Beamten für ihren Unterhalt zahlen. Vor dem Gericht der Chabochis ist das aber nicht durchgekommen.

Ramiros Familie war aus Guachochi in die Colonia Tarahumara gezogen. Eine Kleinstadt in der Sierra de Chihuahua, knapp 800 Kilometer von Ciudad Juárez entfernt, die vor allem von Rarámuri bewohnt wird. Die meisten Straßen im von Pinienwäldern umgebenen Tal sind unbefestigt, und die niedrigen Häuser haben weite Gärten und Hinterhöfe, in denen Schweine und Hühner gehalten werden. Pick-ups fahren gemächlich durch den Ort, es riecht nach Feuerholz und regennasser Erde.

Guachochi ist zwar noch immer beschaulich, aber doch ist die Kleinstadt in den letzten Jahren enorm gewachsen. »Leider können viele Menschen in der Sierra nicht mehr überleben und ziehen in die Städte«, erklärt Silvino Ramos, einer der drei indigenen Gemeinderäte von Guachochi. Und das liege nicht an der Flucht vor dem kargen Leben in den entlegenen Ansiedlungen, sondern auch an den neuen Ansiedlungen in den Bergen. Der Chabochi ist nun auch an diesem Zufluchtsort der Rarámuri angekommen. »Illegaler Holzeinschlag hat in den vergangenen Jahren atemberaubende Ausmaße erreicht und trägt zu Dürren, Waldbränden und Erosion bei.« Drogenkartelle lassen kahle Hänge zurück und nutzen die freien Flächen für Marihuana- und Mohnplantagen. »Als Jugendlicher bin ich oft drei Tage lang bis Creel gelaufen, quer durch die Berge«, erinnert sich Silvino Ramos. Heute sei das nicht mehr möglich, überall stünden Wachposten. Kartellangehörige zwingen Angehörige der Rarámuri in die Zwangsarbeit. Widerständigen droht der Tod oder das Exilleben - in Guachochi oder in Ciudad Juárez.

In der Hügelkette über der Grenzstadt hat an diesem Sonntag Arnulfo Quimare zu einem Freundschaftslauf über 20 Kilometer eingeladen. Gerade erst geht die Sonne auf über einer Landschaft, die jedem Westernfilm alle Ehre macht. 20 Kilometer sind ein Kinderspiel für den Ultramarathonläufer aus Sorochique, Batopilas. Wie zahlreiche andere Rarámuri hat er schon an Läufen auf der ganzen Welt teilgenommen, wie am Boston-Marathon und an Ultramarathonläufen in Spanien. 2006 besiegte er den bis dahin ungeschlagenen Ultramarathonläufer Scott Yurek aus den USA bei einem Lauf von 80 Kilometern durch die Sierra de Chihuahua.

43 Jahre ist Arnulfo Quimare alt und steigt nun bekleidet mit einem gelben traditionellen Hemd, einem bestickten Lendenschurz und den Huaraches-Sandalen, aus dem Geländewagen. Läufer aus der Grenzmetropole, ein Dutzend junger Ringer und Ringerinnen von einem Sportklub und ein spanischer YouTuber begrüßen ihn euphorisch. Sie haben Lebensmittelspenden für seine Gemeinde mitgebracht, die nur zu bestimmten Jahreszeiten mit dem Auto zu erreichen ist. Der indigene Läufer lächelt bei Gruppenfotos und Selfies charmant in die Kamera. Dann gibt er das Zeichen zum Aufbruch und beginnt in langsamem, aber beständigen Tempo in Richtung der von Kakteen und Dornenbüschen überwachsenen Felsen zu traben. Eine Gruppe Chabochi folgt ihm begeistert.

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