Imaginäre Spiele

In Coronazeiten wird Olympia in Tokio erst mit der Kraft der Vorstellung so richtig lebendig

  • Michael Wilkening, Tokio
  • Lesedauer: 4 Min.

Es lässt sich nur erahnen, welche Euphorie in Tokio herrschen könnte, wenn das Coronavirus die Menschen nicht ausgesperrt hätte. Die Straßen rund um das Olympiastadion sind mit Menschen gesäumt, die den vorbeifahrenden Bussen zuwinken. Die Japaner machen Fotos von den Personen, denen Eintritt in die Arena gewährt wird. Sie wünschen den Journalisten aus aller Welt viel Spaß, es gibt kurze Dialoge durch die Absperrzäune hindurch. Die 32. Olympischen Spiele der Neuzeit schaffen eine bislang unbekannte Art des Olympiatourismus - eine skurrile Situation. Vor den Arenen treffen Begeisterte auch immer mal wieder auf demonstrierende Olympiagegner, die zwar weniger, aber lauter sind.

Die Spiele von Tokio werden als die der notwendigen Vorstellungskraft in Erinnerung bleiben (müssen). Die Menschen stellen sich vor, in den Arenen dabei zu sein, während sich die Athleten ausmalen, dass sie zumindest von Millionen Menschen weltweit vor Fernsehgeräten, Tablets und Smartphones unterstützt werden. Die Sommerspiele 2021 finden in weiten Teilen im Imaginären statt.

Real ist dafür die Sorge vor dem Virus. Um die Spiele so sicher wie möglich zu machen, betreiben die Organisatoren einen Aufwand von gigantischer Dimension. Mehr als 25 000 Personen sind als Athleten, Journalisten oder Offizielle im Einsatz. Etwa die Hälfte von ihnen muss sich täglich einem Coronatest unterziehen, der Rest spätestens alle vier Tage. Mittels einer Smartphone-App müssen alle Teilnehmer täglich Daten zu ihrem Gesundheitszustand übermitteln. Erst 14 Tage nach dem Eintritt ins Land darf man sich frei in Tokio bewegen, sofern keine Krankheit aufgetreten ist. Vor dem Betreten eines Veranstaltungsortes wird zusätzlich mit einer Wärmebildkamera die Körpertemperatur ermittelt.

Polizei, Sicherheitsdienste und unzählige Volunteers wickeln die Sicherheitsmaßnahmen ab - die Armee der Helfer ist noch größer als die der Teilnehmer. Die »Olympiablase« soll undurchlässig sein, doch das gelingt nicht an allen Stellen, nicht jeder Austritt kann verhindert werden. So passieren immer wieder Journalisten öffentliche Straßen, um von den Haltestellen des Transportsystems in die Sportstätten zu gelangen - und treffen dabei auf spielende Kinder, erhaschen einen minimalen Einblick in das normale Leben der Stadt. Die App, in der hinterlegt ist, ob und ab wann sich Teilnehmer frei bewegen und beispielsweise öffentliche Verkehrsmittel benutzen dürfen, hat eine Schwäche. Bei falscher Installation darf man sich bereits kurz nach der Ankunft frei bewegen. Doch nur wenige nutzen diesen Fehler, die Mehrheit geht besonnen mit der Besonderheit dieser Spiele um. Erfahrungen mit der Pandemie haben ja auch alle schon lange genug sammeln können, die Disziplin ist groß.

Hinter der Arena für das Sportklettern und dem Stadion, in dem 3x3-Basketball gespielt wird, liegt der Fan-Park. Dort präsentieren sich die Sponsoren, vor allem aber sollten die Zuschauer hier die Möglichkeit haben, sich in Feierstimmung zu bringen. Nicht weit entfernt ist das Beachvolleyballstadion. An diesen Orten hätte das jugendliche Herz für Olympia schlagen können. Modern und enthusiastisch - umrahmt von fetzigen Beats - sollten Tokio und die Spiele hier sein. Die Realität sieht anders aus. Der Fan-Park ist geschlossen, die Wettbewerbe der Trendsportarten finden ohne Zuschauer auf den Rängen statt. Hier werden nicht die bunten Bilder präsentiert, mit denen das Internationale Olympische Komitee weltweit für sich werben wollte. Die Pandemie hat es verhindert.

Dusan Bulut bedauert das, er umschreibt es kurz mit »shit«. Aber die Umstände, die die Welt und Tokio seit anderthalb Jahren einschränken, ändern nichts an der Leidenschaft für den Wettkampf. Bulut hat schon viermal mit Serbien den World Cup gewonnen, den wichtigsten Wettbewerb im 3x3-Basketball. Er ist der Superstar seiner Sportart, hat schon alles erreicht und ein paar dicke Werbeverträge in der Tasche. Seine Begeisterung für Olympia trotz leerer Ränge leidet darunter aber nicht. »Das ist das größte Turnier, das ich je gespielt habe«, sagt der 35-Jährige. Die ersten Spiele des Turniers liegen nun hinter ihm, und seine Aussagen unterstreichen einen Fakt, der sich bereits an den ersten Tagen herauskristallisiert hat. Für die Athleten hat die Anziehungskraft der Spiele durch die äußeren Umstände nicht gelitten. Sie bedauern das Fehlen der Zuschauer und die Einschränkungen in der Bewegungsfreiheit, aber die Wettbewerbe im Zeichen der fünf Ringe können sie dennoch genießen.

In den ersten Tagen der Olympischen Sommerspiele ist Tokio - immerhin eine Metropole mit knapp 14 Millionen Einwohnern - ruhig. Die Stadt wirkt schläfrig, der Pulsschlag scheint beinahe erloschen. Es ist aber nicht so, dass die Menschen vor Olympia geflohen wären oder sich in den eigenen vier Wänden verbarrikadiert hätten. Die Regierung hatte den Marine-Feiertag und den Sport-Tag in Erinnerung an die Olympischen Spiele 1964, die ebenfalls in Tokio ausgetragen wurden, auf den 22. und 23. Juli gelegt. Vermutlich, damit sich die diesjährige Ausgabe in Ruhe entwickeln konnte. Schon am Montag wirkte die Metropole etwas wacher. Den Ablauf der Wettbewerbe wird das größere Treiben kaum beeinflussen, höchstens das olympische Transportsystem - wenn der Verkehr auf seine übliche Größe anschwillt.

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