»Nicht noch mehr Impfstoffe verschwenden«

Im Kongo ist die Ablehnung von Vakzinen besonders groß. Viele Bürger sind misstrauisch oder haben ganz andere Sorgen

  • Judith Raupp, Goma
  • Lesedauer: 7 Min.

Serge Kahatwa sitzt erschöpft in seinem Büro und blickt ernst über seine Schutzmaske. »Heute Nacht sind wieder drei Covid-Patienten gestorben. Mindestens einen hätten wir retten können, wenn wir genug Sauerstoff gehabt hätten«, berichtet der medizinische Direktor des Krankenhauses Heal Africa in Goma. Das Hospital in der Millionenstadt ganz im Osten der Demokratischen Republik Kongo, direkt am Kivu-See und unweit der Grenze nach Ruanda gelegen, produziert 15 Flaschen medizinischen Sauerstoff pro Tag. Es bräuchte aber 20, um alle Covid-Patienten in den 34 Zimmern versorgen zu können.

Seit einigen Wochen steigt die Zahl der Covid-Fälle in der Provinz Nord-Kivu schneller als zuvor. In den Leichenhallen ist kaum noch Platz. Viele Tote müssen sofort beerdigt werden. Bis zum 30. Juli verzeichnete die Demokratische Republik Kongo insgesamt 49 562 Infektionen, davon fast ein Zehntel in Nord-Kivu, die meisten nach der Hauptstadt Kinshasa. Laut der offiziellen Statistik sind bisher 1023 Menschen gestorben. Vermutlich gibt es deutlich mehr Fälle, denn in dem Land mit rund 90 Millionen Einwohnern wird nur wenig getestet.

Den Krankenhäusern in Goma mangelt es neben Sauerstoff auch an Masken, Handschuhen und Schutzumhängen. »Wenn wir keine Unterstützung bekommen, haben wir bald indische Verhältnisse«, warnt Chefmediziner Kahatwa. Die internationale Hilfsbereitschaft sei deutlich geringer als bei der Ebola-Epidemie vor drei Jahren. Damals waren die reichen Länder noch nicht damit beschäftigt, zuhause eine Pandemie zu bekämpfen und ihre Wirtschaft zu retten.

Eine Ursache für die vielen Covid-Fälle in Nord-Kivu war der Ausbruch des Vulkans Nyiragongo im Mai. Damals flüchteten viele Menschen in Panik aus Goma, dicht gedrängt, ohne Masken, ohne Wasser, völlig auf sich selbst gestellt. Viele Entwicklungshelfer reisten aus Angst vor der Lava und vor den Erdbeben Hals über Kopf ab, und die örtlichen Behörden waren überfordert.

Inzwischen ist die hoch ansteckende Delta-Variante des Coronavirus auch im Kongo angekommen. Damit trifft die Pandemie eines der ärmsten Länder der Welt, das seit vielen Jahren von einer politischen und gesundheitlichen Krise in die nächste schlittert. Banden beherrschen große Teile des Geschäfts mit Rohstoffen. Im Osten marodieren seit Jahrzehnten Milizen, woran die weltweit größte Friedensmission der Vereinten Nationen bisher nur wenig geändert hat. Die Menschen haben längst alles Vertrauen verloren, in die eigene Regierung ebenso wie in ausländische Helfer.

Als wäre das nicht genug, musste Direktor Kahatwa nun ein Schild an das Krankenhaustor kleben lassen, auf dem steht: »Wir stellen das Impfen gegen Covid-19 vorübergehend ein. Danke für Ihr Verständnis.« Wie es dazu gekommen ist, kann der Arzt Stéphane Hans Bateyi erklären. Er leitet die Impfkampagne der Provinzregierung und führt in den Kühlraum, in dem die Vakzine lagern. Im März haben die reichen Länder im Rahmen der Covax-Initiative der Weltgesundheitsorganisation (WHO) dem Kongo 1,7 Millionen Dosen des Vakzins von Astra-Zeneca gespendet. »Kurz darauf mussten wir 1,3 Millionen Dosen an andere afrikanische Länder abtreten, weil abzusehen war, dass wir nicht alle verabreichen können«, sagt Bateyi.

Argwohn in der Bevölkerung bremst nämlich die Impfkampagne aus. Laut einer Umfrage der Afrikanischen Union in 15 Ländern sind Kongolesen skeptischer gegen das Impfen eingestellt als andere Afrikaner. Dazu mag beigetragen haben, dass Staatspräsident Félix Tshisekedi öffentlich erklärte, er warte lieber auf einen anderen Impfstoff, da es international Bedenken gegen den von Astra-Zeneca gebe. Außerdem erkannten viele EU-Länder das Vakzin aus indischer Produktion, das nach Afrika geliefert wurde, zunächst nicht an. Das nährte den Verdacht, es sei ein Impfstoff zweiter Klasse. Und seit ein Mann in der Hauptstadt Kinshasa kurz nach einer Impfung gestorben war, stieg das Misstrauen noch mehr. »Der Fall wird untersucht«, versichert Bateyi.

Der Mediziner führt in das Kühlhaus, in dem die Kartons mit den Impfampullen lagern. Jemand hat in großen, roten Buchstaben darauf geschrieben: »Achtung, nicht mehr verwenden, abgelaufen.« Bald werden die Dosen in einem Ofen der UN-Friedensmission unter Aufsicht eines Staatsanwalts verbrannt. Von den 400 000 Dosen, die im Kongo verblieben sind, »haben wir nicht einmal 100 000 verwendet«, schimpft Bateyi.

Demnach werden im Kongo mehr Impfstoffmengen vernichtet als anderswo in Afrika. Die WHO beziffert die Zahl der abgelaufenen Dosen auf dem Kontinent auf insgesamt 450 000. Neben dem Kongo verbrennen auch Malawi, Südsudan, Liberia, Mauretanien, Gambia, Sierra Leone, Guinea und die Komoren Vakzine. Manche Impfstoffe wurden den Afrikanern relativ kurz vor dem Ablaufdatum geliefert.

Tuver Wundi, Leiter der Redaktion des Staatsradios in Goma, gibt den sozialen Medien eine Mitschuld an der großen Impfskepsis der Kongolesen: »Es wurde viel gehetzt. Die Leute dachten, dass sie als Versuchskaninchen für die westliche Pharmaindustrie herhalten müssten. Sie glaubten, sie würden nach dem Impfen sterben.« Wundi hat sich impfen lassen, weil er als Journalist viele Leute trifft, die auf Abstandhalten oder Maske-Tragen pfeifen. Der Kampf um das tägliche Brot nimmt all ihre Energie in Anspruch. Da bleibt kaum Zeit, über das Impfen nachzudenken oder sich über verschiedene Impfstoffe zu informieren.

Ganz anders ergeht es den vielen ausländischen Entwicklungshelfern in Goma. In den Messanger-Gruppen überschlagen sich die Tipps, wer sich wo und wann impfen lassen kann, welcher Impfstoff welche Vor- oder Nachteile hat. »Relativ zur Einwohnerzahl kamen mehr Fremde als Kongolesen zum Impfen«, schätzt der Arzt Justin Hangi. Er arbeitet im Krankenhaus Heal Africa und leitet dort das Impfprogramm. »Ich hätte mir mehr kongolesische Kundschaft gewünscht, aber ich impfe natürlich auch gerne die Weißen«, versichert er.

Eine von ihnen ist Emma Camp. Zuerst habe sie gezögert, gibt die Britin zu. Schließlich sollen die Impfdosen der Covax-Initiative armen Menschen zugutekommen. »Aber als ich gehört habe, dass die Dosen zurückgeschickt werden, habe ich mich impfen lassen«, erzählt Camp. Sie hätte 2300 Euro für die Quarantäne in einem Hotel ausgeben müssen, wenn sie zum Impfen nach Großbritannien geflogen wäre.

Die Vereinten Nationen haben eigens für ihre Angestellten im Kongo 25 000 Dosen Astra-Zeneca-Impfstoff eingeflogen, der aber nicht aus der Covax-Initiative stammt. Den größten Teil spendete ausgerechnet das hart getroffene Indien, denn viele Blauhelmsoldaten stammen aus dem südasiatischen Land. Angestellte der UN und internationaler Organisationen hoffen zudem, dass sie nach einer Impfung künftig leichter reisen können. Viele von ihnen bekommen alle paar Monate Sonderurlaub, weil sie in einem Krisengebiet arbeiten.

Die Missionarin Michelle Smith aus den USA hält es aber auch für ein gutes Werk, dass sie sich hat impfen lassen. »Wir Ausländer reisen in alle Welt, wir müssen die Kongolesen schützen«, findet sie. Außerdem wollte sie als gutes Beispiel vorausgehen. »Wenn wir uns impfen lassen, zeigt das den Kongolesen, dass es nicht gefährlich ist. Das kann sie motivieren, sich ebenfalls impfen zu lassen«, glaubt Smith. Aus ihrem guten Beispiel wurde allerdings nur bedingt etwas: Kaum hatte sie die zweite Impfdosis erhalten, erkrankte sie an Covid-19. Nun erklärt sie ihren kongolesischen Freunden, dass dank der Impfung zumindest die Symptome nicht so stark sind. Aber die Überzeugungsarbeit bleibt schwierig.

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Die kongolesische Demokratie- und Frauenrechtsaktivistin Passy Mubalama ärgert sich darüber, wie die Impfkampagne verläuft. »Es zeugt von einer schlechten Politik, wenn sich eher die Ausländer als die Einheimischen impfen lassen«, schimpft sie. Die Reichen seien doch sowieso schon besser geschützt als die arme Mutter, die sich jeden Tag auf dem Markt drängelt, um ihre Tomaten zu verkaufen. »Wir müssen die Menschen besser aufklären«, fordert sie. Mubalama war lange Zeit selbst skeptisch und wollte sich nicht impfen lassen. »Man weiß nicht, was langfristig passiert«, argwöhnt sie. Aber angesichts der inzwischen vielen Toten in Goma hat sie ihre Meinung geändert.

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Trotz der Probleme hat die kongolesische Regierung nochmals fünf Millionen Impfdosen bei der Covax-Initiative angefragt. Die ersten Ampullen sollen bereits in den nächsten Tagen eintreffen. Staatsradio-Chefredakteur Wundi hofft, dass die Kampagne dieses Mal besser läuft. »Wir können nicht noch einmal internationale Spenden verschwenden, die andere gut brauchen könnten«, sagt er.

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