Und doch nicht Scharping

Wie ein Flugzeug und zwei Türme einen Verteidigungsminister von der Titelseite des »ND« verdrängten

  • Gabi Oertel
  • Lesedauer: 3 Min.
11. September im "ND": Und doch nicht Scharping

Das Aufregendste, was dieser Diensttag vor 20 Jahren zu bieten hatte, war die sogenannte Scharping-Affäre. Rudolf Scharping, der damalige Bundesverteidigungsminister und SPD-Politiker, hatte mit peinlichen Fotos von Pool-Planschereien mit seiner neuen Lebensgefährtin und zahlreichen Flügen zu ihr nach Mallorca während der Vorbereitung des Mazedonien-Einsatzes »seiner« Truppe für zweifelhafte Furore gesorgt und sollte an jenem Tag in einer Sondersitzung des Bundestags-Verteidigungsausschusses Rede und Antwort stehen.

Im Bundestag lieferten sich Regierung und Opposition die zu erwartenden Scharmützeln. Wahrscheinlich wäre das am nächsten Tag auf der Titelseite des »Neuen Deutschlands« gelandet. Die ersten kurzen Meldungen gegen 15 Uhr aus New York City von einem Flugzeug, das in einen Wolkenkratzer gekracht war, zunächst noch unter »Unfall« abgebucht, wären vielleicht eine Nachricht auf der damals in dieser Zeitung noch vorhandenen Panaroma-Seite gewesen.

Doch nur Minuten später änderte sich das. Im Büro des Chefredakteurs wurde die Traube aus Redakteuren vor dessen Fernseher immer größer. Inzwischen drängten die beängstigenden Bilder von den explodierenden Flugzeugen, zusammenbrechenden Zwillingstürmen, schreienden, springenden und flüchtenden Menschen zwingend auf die Titelseite. Die kurzen Geplänkel über Aufmacher oder Keller erledigten sich von selbst, der Chefredakteur entschied, dass die gesamte Seite mit all ihren ansonsten ehern geltenden Rubriken abzuräumen, um der Einzigartigkeit des Ereignisses gerecht zu werden. Fotos, Nachrichtenzusammenfassung, Kommentar. Alles andere, was geplant und teilweise schon fertig war, wanderte nach hinten. Genug zu tun für zunächst knapp zweieinhalb Stunden - Redaktionsschluss war um 18 Uhr. Für die sogenannte B-Ausgabe, die in Berlin und Brandenburg verkauft wurde, hatten wir zwei Stunden länger Zeit, um die ersten weltweiten Reaktionen zum Terroranschlag einzufangen.

Es wurde nicht nur wegen des Zeitdrucks immer leiser im Großraum, in dem - kaum vorstellbar heute und wahrlich nicht nur wegen der Corona-Platzregelungen - vor 20 Jahren noch mehr als zwei Dutzend Mitarbeiter parallel arbeiteten. Das verhaltene »jetzt auch das Pentagon« des Nachrichtenmannes blieb unkommentiert. Kein Scherz, kein Fluchen, ungewöhnliche Stille. Apokalyptisches Schweigen, orchestriert vom Klicken der Tastaturen und ein paar kurzen, gedämpften Telefonaten und Absprachen.

An diesem Spätnachmittag bis weit in den Abend machten während der Zeitungsproduktion noch nicht Begriffe wie »Ground Zero« oder »Nine Eleven« die Runde. Doch die leise und vielleicht nicht angstfreie Ahnung, mittelbare Zeugen einer Zäsur geworden zu sein, die auf die Zukunft dunkle Schatten werfen würde, gab es schon bei den meisten Beteiligten. Natürlich konnte sich an jenem so gar nicht normalen Dienstag kaum jemand vorstellen, wie ausdauernd wir uns in den kommenden Jahren und Jahrzehnten mit kriegerischem Gemetzel, entfesseltem Hass, absurden Verschwörungsmythen und kläglichem Politikversagen herumschlagen würden müssen. Das Denken war an diesem Tag noch nicht in ein vor und nach dem 11. September eingeteilt. Das begann auch im »ND« erst am nächsten Morgen.

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