Ein glanzloser Sieg

Die Regierungspartei Einiges Russland ist so unbeliebt wie nie. Die Parlamentswahl gewinnt sie trotzdem

  • Birger Schütz
  • Lesedauer: 5 Min.

Als die Parteiführung von Einiges Russland, 50 ausgesuchte Duma-Abgeordnete und einige Mitarbeiter der russischen Präsidialadministration Ende vergangenen Jahres hinter verschlossenen Türen zusammenkamen, um die Parlamentswahlen 2021 zu besprechen, herrschte noch Optimismus. Die Regierungspartei müsse deutlich mehr als zwei Drittel der 450 Dumasitze holen, ordnete Alexander Charitschew an. Auf keinen Fall dürfe man eines der bisher 343 gehaltenen Mandate verlieren, so der einflussreiche Leiter der Präsidialadministration. Demzufolge müssten mehr als 76 Prozent der Wähler bei der am Freitag beginnenden Wahl für Einiges Russland stimmen.

Ein Ziel, das angesichts aktueller Umfragen und der schwindenden Popularität der seit 2003 regierenden Partei selbst Spitzenbeamten ziemlich unrealistisch vorkam. Die Präsidialadministration korrigierte die Zahlen im Januar erstmals nach unten. In der vergangenen Woche gab sie nun die endgültigen Zielvorgaben bekannt. Demnach sei bereits ein Abstimmungsresultat von 60 Prozent - 270 Mandate - »annehmbar«, berichtet das unabhängige Onlinemedium »Znak« mit Bezug auf Quellen aus der Präsidialadministration.

Der Schwenk kommt einer kleinen Sensation gleich: Denn die Partei rückt erstmals von der für Verfassungsänderungen notwendigen Mehrheit von 301 Parlamentssitzen ab, was in der Vergangenheit als praktisch undenkbar galt. »Einiges Russland wird bei den Dumawahlen 2021 die Mehrheit erringen«, erklärt Konstantin Kostin, führender Polittechnologe der Partei das bescheidenere neue Ziel. »Ob diese verfassungsgebend sein wird oder nicht, hängt von vielen Faktoren ab.«

Historisches Umfragetief

Die zurückhaltenden Erwartungen haben Gründe: Seit Monaten verliert die Kremlpartei an Rückhalt, die Umfragewerte stürzen in den Keller. Zu den Parlamentswahlen tritt Einiges Russland mit den schlechtesten Beliebtheitswerten seit acht Jahren an. Gerade mal 26 bis 27 Prozent der Wahlberechtigten wollen ihr Kreuzchen noch bei der Kremlpartei machen, ergaben Umfragen des staatlichen Meinungsforschungsinstitutes WZIOM und der staatlichen Stiftung für öffentliche Meinung (FOM) aus der letzten Augustwoche. Damit liegt die Partei erstmals unter dem bisherigen Umfragetiefpunkt aus dem Jahr 2013, als 38 Prozent der befragten Wahlberechtigten angaben, bei den nächsten Wahlen für die Partei stimmen zu wollen.

Die Gründe für die nachlassende Popularität sind vielfältig: Die patriotische Euphorie nach der Krim-Annektion, welche Einiges Russland noch 2015 ein Umfragehoch von 55 Prozent bescherte, hat sich längst gelegt. Mittlerweile steht die Partei eher für den ständig sinkenden Lebensstandard, die wachsende Inflationsrate und das chaotische Management in der Corona-Krise. Doch es war vor allem die Heraufsetzung des Rentenalters, mit der sich Einiges Russland 2018 bei Millionen Russen unbeliebt machte. Nach der verhassten Reform pendelte sich die Zustimmung für die Partei bei Werten knapp über 30 Prozent ein.

Vor den Wahlen ließ man nichts unversucht, um den Abwärtstrend zu stoppen. So gab Präsident Wladimir Putin, der kein Mitglied der Partei ist, seine übliche Zurückhaltung auf und trat bei mehreren Parteitagen von Einiges Russland auf. Dabei versprach der Staatschef Ende August unter anderem eine Einmalzahlung von umgerechnet 173 Euro für Polizisten, Sicherheitsbeamte und Soldaten. Rentner, die ebenso zur traditionellen Kernwählerschaft von Einiges Russland gehören, sollen etwa 115 Euro bekommen.

Zuvor hatte Putin bereits mit einer anderen Entscheidung für Aufsehen gesorgt. Im Juni strich er völlig überraschend den unpopulären Parteichef Dmitri Medwedew von der Kandidatenliste der Partei. Statt des farblosen Ex-Präsidenten, der seit 2012 stets als Spitzenkandidat für Einiges Russland bei Wahlen antrat, führt nun der wesentlich populärere und stramm nationalistische Verteidigungsminister Sergej Schoigu die Liste für die Dumawahlen an. Auf Platz 2 folgt der anerkannte Außenminister Sergej Lawrow, der bei einem Wahlkampfauftritt im südrussischen Wolgograd Kritik an Stalin als »Attacke auf unsere Vergangenheit« bezeichnete. Ihm folgt Denis Prozenko, bekannter Chefarzt einer Moskauer Klinik, der während der Corona-Krise mit Auftritten im russischen Fernsehen landesweit Berühmtheit erlangte und eine Kandidatur für Einiges Russland bisher stets ausgeschlossen hatte. Doch der Staatsapparat verlässt sich nicht allein auf kurzfristige Maßnahmen zur Steigerung der Popularität.

Eine Vielzahl neuer Vorschriften, Regeln und Gesetzen soll ein möglichst gutes Abschneiden der Regierungspartei garantieren. So ist die Dauer der Wahlen erstmals für drei Tage angesetzt. Dies verhindere, dass unabhängige Wahlbeobachter den gesamten Urnengang begleiten können und öffne die Tür für Fälschungen, kritisieren Beobachter. Auch die Videoüberwachung vieler Wahlstationen soll zum ersten Mal seit zehn Jahren nicht mehr in Echtzeit stattfinden und nicht mehr allen Interessierten zugänglich sein - wegen angeblicher Cyberangriffe aus dem Ausland. Darüber hinaus wurde die auf die Beobachtung von Abstimmungen spezialisierte Nichtregierungsorganisation Golos (Stimme) als ausländischer Agent eingestuft, was ihre Arbeit erschwert. Viele Oppositionspolitiker konnten wegen eines neuen Gesetzes über extremistische Organisationen und einer Vorschrift, die politisch Vorbestraften die Teilnahme an der Wahl verbietet, gar nicht erst antreten. Auch die Ausweitung der elektronischen Stimmenabgabe auf sieben Regionen solle Einiges Russland stärken, monieren Kritiker. Vor allem Staatsbedienstete würden unter Druck gesetzt, im Internet für die Regierungspartei zu stimmen. Ihr Abstimmungsverhalten sei leicht zu kontrollieren.

Vorbereitete Wahlfälschung

Aber auch direkte Wahlfälschungen werden vorbereitet: Die regierungskritische »Nowaja Gaseta« veröffentlichte Anfang September den Audiomitschnitt einer Schulung für Wahlhelfer aus Koroljow bei Moskau. In diesem gibt Shanna Prokowjewa, Beraterin des Bürgermeisters, detaillierte Anweisungen zur Wahlfälschung. »Uns interessiert nur eine konkrete Zahl und eine konkrete Partei«, erklärt die Beamtin in der Aufnahme. 42 bis 45 Prozent der Stimmen solle die Liste der Regierungspartei in Koroljow bekommen. Um diesen Wert zu erreichen, müssten Abstimmende mehr als einen Stimmzettel in die Wahlurne einwerfen. Dafür würden gefügige Wahlbeobachter von der örtlichen Systemopposition gebraucht. Mache man alles richtig, helfe dagegen auch kein »Kluges Wählen«, so Prokowjewa mit Anspielung auf die Methode des inhaftierten Oppositionellen Alexej Nawalny. »Egal wie klug, egal wie dumm, egal was.«

Trotz des Verbots von Nawalnys Organisationen und der Emigration führender Mitstreiter: Die Strategie, bei welcher der aussichtsreichste Oppositionskandidaten die Stimme erhält - egal welcher oppositionellen Partei er angehört - macht Einiges Russland und die Behörden nervös. Anfang September verbot ein Moskauer Gericht den Suchmaschinen Google und Yandex, »Kluges Wählen« in den Suchergebnissen anzuzeigen. Im südrussischen Rostow am Don wurde eine Aktivisten wegen der »Verbreitung extremistischer Symbolik« zu einer Geldstrafe verurteilt: Sie hatte auf Instagram ein Plakat gezeigt, dass zum klugen Wählen aufruft.

Dass die Partei trotz abnehmender Beliebtheit die Mehrheit holt, steht außer Zweifel. Dafür spricht auch die niedrige erwartete Wahlbeteiligung. Stimmen, wie von vielen Umfrageforschern erwartet, nur zwischen 45 und 50 Prozent der Wahlberechtigten ab, verwandeln sich die prognostizierten 27 Prozent Zustimmung in ein Ergebnis von mindestens 40 Prozent für Einiges Russland.

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