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- Colonia Dignidad
Die deutsche Politik bewegt sich, die Justiz nicht
Kommission von Bundestag und Bundesregierung legt vorläufigen Bericht zur Sektensiedlung vor. Die Staatsanwaltschaft bleibt passiv
Die Colonia Dignidad (Siedlung der Würde) ist Geschichte, die Aufarbeitung der Verbrechen noch lange nicht beendet. Nun wurde der ehemalige Angehörige der Siedlung, Reinhard Döring, in Italien verhaftet. Seit 2005 wurde Döring über Interpol gesucht. In Chile werden ihm Entführung und Beteiligung an der Ermordung von politischen Gefangenen vorgeworfen. Seit 2004 lebte der deutsche Staatsangehörige straflos in Deutschland. Bei einer Reise nach Italien wurde der 75-Jährige vergangene Woche in Forte dei Marmi in der Toscana verhaftet. Die zuständige chilenische Ermittlungsrichterin Paola Plaza ist informiert und prüft derzeit Möglichkeiten einer Auslieferung nach Chile.
Reinhard Döring soll in der Zeit der Pinochet-Diktatur ab 1973 als Kontaktperson der Sekte zum chilenischen Geheimdienst Dina fungiert haben. Dieser hatte auf dem Gelände der Colonia Dignidad ein Gefangenen- und Folterlager eingerichtet. Döring bewachte Gefangene in einer der Folterstätten, dem »Kartoffelkeller«. Als Lkw-Fahrer soll Döring politische Gefangene zu ihrer Exekution an einen abgelegenen Ort auf dem Gelände der Siedlung transportiert haben. Als Baggerfahrer soll er Massengräber ausgehoben, Leichen wiederum daraus entfernt und anschließend verbrannt haben. Außerdem soll er Waffen illegal in der Villa Baviera (Bayrisches Dorf) – wie die Colonia Dignidad inzwischen heißt – versteckt haben. Döring wird weiterhin vorgeworfen, in den 1990er Jahren an der Entführung eines chilenischen Jungen beteiligt gewesen zu sein, der von Sektenchef Paul Schäfer vergewaltigt wurde.
Döring entzog sich dem Strafprozess in Chile jedoch durch Flucht nach Deutschland. Seit 2004 lebte er straflos im nordrhein-westfälischen Gronau. Chile beantragte zwar seine Auslieferung. Doch Döring besitzt die deutsche Staatsangehörigkeit, und die schützt ihn vor Überstellung an Staaten außerhalb der EU. Eigenständige Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Münster wurden 2019 eingestellt. Zwar habe Döring nach eigenen Angaben Gefangene bewacht, erklärte die Staatsanwaltschaft, einen hinreichenden Tatverdacht habe es dennoch nicht gegeben.
Es habe keinen ausreichenden Willen zur Aufklärung gegeben, kritisierte hingegen Andreas Schüller vom European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR). Das ECCHR hatte 2018 Strafanzeige gegen Döring erstattet und eine lange Liste von Zeugen vorgelegt, die »wichtige Auskünfte zur Rolle Dörings in der Colonia Dignidad geben können«, so Schüller.
Dabei ist Döring kein Einzelfall. Chilenische und argentinische Diktaturverbrecher, die auch die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, können sich in Deutschland weitgehend sicher fühlen. Wegen Verbrechen der Colonia Dignidad ermittelte die deutsche Justiz zwar jahrzehntelang, erhob aber in keinem einzigen Fall Anklage. 2019 stellte die Staatsanwaltschaft Krefeld auch die Ermittlungen gegen Hartmut Hopp, den früheren Arzt der Sekte, ein. In Chile ist er wegen Beihilfe zu Vergewaltigung rechtskräftig zu fünf Jahren Haft verurteilt. Er lebt seit 2011 in Krefeld und wird nicht ausgeliefert. Die Vollstreckung der chilenischen Haftstrafe in Deutschland lehnte das Oberlandesgericht Düsseldorf 2018 ebenfalls ab.
2017 hatten sich die Abgeordneten des Bundestags geeinigt und die Bundesregierung einstimmig zur Aufklärung der Verbrechen der Colonia Dignidad aufgefordert. Denn in der 1961 von dem deutschen Laienprediger Paul Schäfer in Chile gegründeten deutschen Siedlung waren sklavenähnliche Arbeitsverhältnisse und sexualisierte Gewalt jahrzehntelang an der Tagesordnung. 2019 legte die Bundesregierung ein Hilfskonzept für Opfer der Sekte vor.
95 Deutsche und Chilen*innen, die als Opfer der Colonia Dignidad gelten, haben seitdem individuelle Hilfszahlungen von bis zu 10 000 Euro aus deutschen Staatsgeldern erhalten – als »Geste der Anerkennung des Leids«. So steht es in dem im September veröffentlichten »Bilanzbericht der Gemeinsamen Kommission von Deutschem Bundestag und Bundesregierung zur Aufarbeitung der Verbrechen der Colonia Dignidad«. Einen Rechtsanspruch auf diese Hilfszahlungen gibt es nicht. Eine Unterstützung bei der kargen Rente, die viele der Betroffenen erwartet, die 40 Jahre ohne Lohn und ohne Sozialabsicherung Zwangsarbeit leisten mussten, ist dies auch nicht.
Der Politologe Jan Stehle bewertet die Hilfszahlungen als grundsätzlich positiv, kritisiert aber fehlende Fortschritte in anderen Bereichen: »Eine Untersuchung der Vermögenswerte der Colonia Dignidad fand nicht statt, beziehungsweise es ist nichts darüber bekannt«. Die Villa Baviera betreibt inzwischen Landwirtschafts- und ein Tourismusunternehmen im bayerischen Stil. »Die Vorstände der heutigen Villa Baviera verweigern Missbrauchsopfern ihre von der Justiz zugesprochenen Entschädigungen«, erklärt der Colonia-Experte Stehle weiter. Chilenische Opfer von sexualisierter Gewalt hatten sich im Mai mit einem Brief an die deutsche Regierung gewandt. Darin baten sie um Unterstützung bei der Durchsetzung ihrer rechtskräftigen Ansprüche auf Entschädigungszahlungen durch die Führung der heutigen Villa Baviera. Eine Antwort haben sie von der Bundesregierung bisher nicht erhalten.
Eine zentrale Aufgabe der deutschen und der chilenischen Regierung wird die gemeinsame Errichtung einer Dokumentations- und Gedenkstätte auf dem Gelände der Villa Baviera sein. Ein Team deutscher und chilenischer Gedenkstättenexpert*innen hat ein Konzept dafür erstellt und im Juni bereits öffentlich vorgestellt. Laut Bilanzbericht der Gemeinsamen Kommission stimmen die deutsche und die chilenische Regierung dem Vorschlag grundsätzlich zu.
Die Angehörigen der in der Colonia Dignidad verschwundenen politischen Gefangenen finden keine Ruhe, solange deren Verbleib nicht geklärt ist. Erst am vergangenen Sonntag demonstrierten sie deshalb erneut am Gelände der einstigen Colonia Dignidad und forderten »Schluss mit dem Schweigepakt!«. Diejenigen, die zur Aufklärung des Schicksals ihrer Liebsten beitragen können, sollen endlich sprechen. Diese Forderung richtet sich nun auch an Reinhard Döring.
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