Ikonografie des Liebesaktes

In Berlin erinnert die Galerie Art Cru an die Bilder der Aktionskünstlerin Helga Goetze

  • Klaus Hammer
  • Lesedauer: 4 Min.

Es liest sich wie eine zurechtgemachte »Bild«-Geschichte: Da führt die Ehefrau eines Bankangestellten im Norden Deutschlands eine höchst ehrbare Ehe, zieht sieben Kinder groß, erfährt dann als Mittvierzigerin eine sexuelle »Erleuchtung«. Sie lebt nun in einer WG mit freier Sexualität. Für eine kurze Zeit schließt sie sich der Kommune des österreichischen Aktionskünstlers Otto Mühl an. 1978 zieht sie nach Berlin-Kreuzberg und praktiziert nunmehr eine seltsame Performance: Fast täglich steht sie stundenlang vor der Gedächtniskirche oder vor der Mensa der TU, selbst entworfene Plakate umgehängt, verteilt auf Zetteln ihre Botschaften, provoziert die Passanten mit ihren zu sexueller Freiheit auffordernden Losungen.

Derart, aber auch durch andere Aktionen, hat sich Helga Goetze damals öffentlichkeitswirksam eingeprägt. Die wenigsten aber wussten, dass sie eine hochbegabte Künstlerin war, die zeichnete und malte, Stickereien schuf, Gedichte verfasste, ihre von weiblicher Selbstbestimmung und dem Recht auch einer älteren Frau auf Sexualität geprägten Lebenserkenntnisse niederschrieb. Innerhalb fast eines Jahrzehnts sind 500 bis 1000 Aquarelle, Gouachen, Pastelle, Collagen, in Mischtechniken gefertigte, mit Filzstift und Ölkreide gezeichneten Arbeiten entstanden, in denen Bild und Schrift einander ergänzen.

Vor zwölf Jahren ist Helga Goetze 86-jährig gestorben. Die Galerie Art Cru, die einzige Galerie für Außenseiter in Berlin, widmet nun eine beeindruckende Ausstellung ihren bildkünstlerischen Arbeiten. Während sich diese wie auch der literarische Nachlass der Aktionskünstlerin im Stadtmuseum Berlin befinden und der Sichtung sowie wissenschaftlichen Aufarbeitung harren, beruht diese Schau auf der Privatsammlung einer Freundin, die Helga Goetze 25 Jahre begleitet hat.

Die Bilder haben eine kaleidoskopische Struktur. Eine Mischung höchst unterschiedlicher Darstellungsebenen, auch im Sprachniveau, zusammengesetzt aus einer Umkehrung der christlichen wie antiken Ikonografie - Selbstinszenierung, Bildnis, Landschafts- und Genrebild, aber auch Karikatur miteinander vereinigend. Frontalität und Flächenhaftigkeit ist ihnen eigen.

Auf eine zentralperspektivische Verkürzung und damit auf die Illusion eines Tiefenraumes wird verzichtet. Die Körper der Figuren verschmelzen miteinander und bilden wieder neue organische Formen, sind mit prominenten Sexualorganen ausgestattet und haben kein Volumen. Die Gesichter sind zeichenhaft aufgetragen, nicht individuell, sondern typisiert. Die räumlichen Gegenstände scheinen in der Luft zu schweben. So wird denn auch in manchen ihrer Bilder keine Geschichte erzählt, kein konkreter Moment und auch nicht eine Folge von Momenten innerhalb eines fließenden Zeitkontinuums dargestellt.

Die Motive haben symbolischen Charakter. Sie sollen dem Betrachter das Geheimnis des Liebesaktes - wie die Ikone das Geheimnis der heiligen Trinität - offenbaren. Im Zusammenspiel von Bildern und Worten werden Liebe und Lust, überhaupt weibliche Erfahrung, Mutterschaft und das friedliche Zusammenleben der Menschen anthroposophisch in den Kreislauf des Lebens - Geburt, Wachstum, Alter und Tod - eingebunden, in den Prozess des Naturgeschehens, die unterschiedlichen Jahreszeiten und schließlich in die Weite des Kosmos. Keineswegs wird dabei der sozialkritische Aspekt vernachlässigt. Der entlarvende Blick richtet sich hinter die Fassade der Alltagswirklichkeit.

Ockergelb, karminrot, kobaltblau, smaragdgrün, schwarz und weiß sowie gelegentlich rosa Krapplack werden unvermischt aufgetragen, sodass der Eindruck von »Plakathaftigkeit« entsteht. Das Bildganze erhält somit eine allegorische, symbolische Bedeutung.

Wie befreit man sich von den Zwängen der irdischen Hülle, und wie vermag man ein eigenes sexualorientiertes Selbstbewusstsein zu entwickeln? Helga Goetze sieht im Mythos, in den religiösen Kultgebräuchen den erotischen Urgrund, den Zirkel von Zeugung, Lust und Verhängnis.

»Meine Schicksalslinie und mein inneres Auge« zeigt ein erschütterndes, von den Zeiten geprägtes weibliches Antlitz mit einer klaffenden Stirnwunde hinter einer demonstrativ abwehrenden oder vorweisenden, von einer Schnittwunde gezeichneten Hand. »Quelle« - die nackte Schöne sitzt oberhalb des nach unten fließenden Wassers, ihr schwimmt liebeshungrig ein junger Mann entgegen, während im unteren Bildteil die Genitalien nebeneinandergereiht »beschäftigungslos«, in Wartestellung verharren. Dann wieder »Entfremdung«: Eine brave, biedere Familie, kinderreich, Mann und Frau sind mit sich beschäftigt, die Kinder im Spiel sich selbst überlassen - aber haben die Eltern je Liebe und Leidenschaft füreinander aufgebracht? Hier scheint Helga Goetze ihr früheres Leben kritisch konterfeit zu haben.

Nie aber wird die Künstlerin in ihren Arbeiten aggressiv, sie bleibt stets humorvoll, ironisch-sarkastisch, satirisch. Ja, sie schockt ihre Zeitgenossen, zeigt ihre Figuren bewusst als geschlechtliche Wesen, oft in allen möglichen Spielarten des Geschlechtsaktes. Helga Goetze ist provokant, auch anstößig, begibt sich aber nie in die Niederungen der Pornografie.

Helga Goetze. Galerie Art Cru, Oranienburger Str. 27 (im Kunsthof), Berlin-Mitte; Di u. Do 12 bis 18 Uhr, Mi 14 bis 18 Uhr; bis 29. Oktober.

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