»Ich erkenne Geschichten«

Sting über das Songschreiben als mysteriösen Prozess, den Klimawandel und die Pandemie

  • Olaf Neumann
  • Lesedauer: 7 Min.

War es sehr kräftezehrend, sich während der Pandemie neue Songs und Themen auszudenken?

Nein. Es wäre stressig gewesen, keine Musik machen zu können. Denn Musik ist meine Therapie, nicht nur in widrigen Zeiten. Eigentlich wollte ich mit meinem Stück »The Last Ship« auf Tournee zu gehen, aber wie alle anderen wurde ich in eine Zwangspause geschickt, von der wir nicht wussten, wann sie enden würde. Ich war deshalb sehr froh, dass ich in mein Studio gehen und versuchen konnte, Musik zu machen. (lacht) Ohne sie wäre ich völlig verrückt geworden. Musik mildert Stress.

Sting
Sting zu treffen ist, als würde man einen alten Bekannten besuchen. Man hat unzählige Male gesehen, wie er in Videoclips und auf Bühnen mit unnachahmlichem Duktus Welthits wie »Englishman in New York« oder »Fields of Gold« sang. Erst war er Englisch- und Musiklehrer, dann wurde er Ende der 70er Jahre mit The Police berühmt und ab den 80er Jahren ein Weltstar. Auch auf seinem neuen Album »The Bridge« (Interscope/Universal) wechselt der Brite mit Leichtigkeit zwischen den Stilrichtungen und beweist Gespür für Melodien und Ohrwurmrefrains. Der Titel »The Bridge« ist eine Metapher für die von Klimawandel und Pandemie geprägte Zeit. Sting hat etwa 175 Millionen Tonträger verkauft, ist sechsfacher Vater und vergangenen Monat 70 geworden.

Widmen sich Ihre neuen Songs der Pandemie?

Nein, ich wollte nicht über die Pandemie oder den Lockdown schreiben, aber die Lieder, die entstanden sind, spiegeln wohl unbewusst etwas davon wider. Denn alle Figuren, über die ich schreibe, befinden sich in einem Zustand des Übergangs zwischen Gegenwart und Zukunft, zwischen Leben und Tod, Gesundheit und Krankheit, in einem komplizierten Beziehungsgeflecht und nervenaufreibenden Befindlichkeiten. Das wurde mir erst am Ende der Jahres klar, als ich mir die Lieder noch einmal ansah und dachte: Oh, das ist es, was sie alle verbindet! Und dann habe ich den Titelsong »The Bridge« geschrieben.

Der eine Metapher für all das ist?

Natürlich. Ich glaube, wir suchen alle nach einer Brücke in die Zukunft, wo wir uns sicher und glücklich fühlen können. Das gilt für mich und für alle Menschen auf diesem Planeten. Wir sind alle mit diesem verrückten Klimawandel konfrontiert, mit der Pandemie, der sozialen Krise, der politischen Krise, mit Kriegen und nicht enden wollenden Konflikten. Ich kenne die Antwort auf all diese Probleme nicht, aber ich glaube, wenn es eine Lösung gibt, dann ist sie in Empathie eingebettet: Menschlichkeit, Liebe, Musik, Kunst und Kultur jeder Art und vor allem Kommunikation.

Sie verstehen sich also als Brückenbauer?

(Lacht) Ich bin ein Sänger. Ich stehe auf einer Bühne, singe Lieder, und die Leute hören mir zu.

Aber es ist Ihnen wichtig, den Menschen Mut zu machen, gerade in Zeiten wie diesen?

Ich denke, ein Teil meiner Aufgabe ist, Menschen glücklich zu machen. Die Leute kommen und kaufen Tickets für meine Show und meine Alben, weil sie das Gefühl haben, dadurch ein bisschen glücklicher zu werden. Ich verstehe meine Arbeit als einen guten Dienst an der Gemeinschaft.

Politischer und sozialer Aufruhr sind zur Zeit sehr allgegenwärtig. Sind das kreative Impulse für einen Songschreiber?

Einige der größten Kunstwerke der Menschheitsgeschichte sind in Zeiten schrecklicher sozialer Konflikte oder Kriege entstanden. Der Klimawandel und die Pandemie sind ziemlich radikale Krisen und sehr real. Die Kunst, Musik, Poesie, Bücher sind wahrscheinlich unsere einzige oder beste Möglichkeit, diese zu verarbeiten. Was können wir sonst tun?

Die Single »If It’s Love« ist ein leichter und eingängiger Song. Schütteln Sie so etwas einfach so aus dem Ärmel?

Songschreiben ist ein mysteriöser Prozess. Ich weiß auch nicht wirklich, wie, woher und warum mir bestimmte Melodien zufliegen. Aber ich bin froh, dass es passiert. Ich fange einfach an, etwas zu pfeifen oder zu spielen, und schon formt sich eine Melodie. Es ist meine Aufgabe zu interpretieren, was diese in Bezug auf die Texte bedeutet. Manche Leute hören Musik und sehen Farben. Ich erkenne Geschichten, Charaktere in bestimmten Situ᠆ationen, Erzählungen. Es ist meine Aufgabe, diese Geschichten dann in Reimpaare zu übersetzen und in einen Song zu gießen.

Kommt manchmal auch Frust auf?

An manchen Tagen ist es wie beim Angeln: Man wirft eine Rute in den Fluss - und nichts passiert, kein Fisch beißt an. Am nächsten Tag ebenfalls: nichts. Aber am übernächsten Tag: Da hat man etwas an der Angel. Du folgst der Neugier, die dich so lange nicht loslässt, bis etwas dein Interesse weckt. Und dann gehst du dem nach. Im Studio muss man geduldig sein.

»Harmony Road« handelt davon, wie es ist, in einem sogenannten Problemviertel aufzuwachsen. Kennen Sie das soziale Stigma, nach der Postleitzahl beurteilt zu werden?

Ich komme aus einer ziemlich harten Stadt im Norden Englands. Dort gab es keine noblen Orte. Aber ich bin dankbar dafür. Denn meine Herkunft gab mir den Antrieb zur Flucht, zum Ausbruch in ein größeres Leben, in die weite Welt. Dazu muss man sagen: Mein Ausweg aus sozialer Misere war Bildung. Ich erhielt ein Stipendium für eine Schule, in der man mir beibrachte, ein Gentleman zu sein. Das hat natürlich nicht geklappt, aber ansonsten hat einiges gefruchtet. Auch für meine Lebensleistung, schätze ich; wohl mehr, als wenn ich reich geboren worden wäre.

Ihre Kindheit verbrachten Sie in Wallsend, einem Vorort von Newcastle upon Tyne.

Ich musste schon früh Geld verdienen, habe schon mit sieben Jahren meinem Vater bei der Arbeit geholfen, der Milch ausgeliefert hat. Ich musste früh um fünf Uhr aufstehen. Und abends trug ich Zeitungen aus. In der Stadt gab es nur zwei Arbeitgeber: eine Werft und eine Kohlemine. Beides kam für mich nicht infrage.

Sie haben den Klassiker »Sittin’ on The Dock of the Bay« gecovert, ein Lied von Otis Redding und Steve Cropper aus dem Jahr 1967 - der Soundtrack Ihrer Jugend?

Ich habe mir diese Single von Otis Redding gekauft, als ich 16 Jahre alt war. Otis war da gerade bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen. Ich war als ein großer Fan von ihm todunglücklich. Den Song habe ich für meine neue Platte aufgenommen, weil ich eine Anfrage von einer Alzheimer-Charity-Gesellschaft bekam. Sie baten mich um ein Lied, das mir viel bedeutet. Man hat herausgefunden, dass an Alzheimer erkrankte Menschen sich an Musik, die sie früher gehört haben, besser erinnern als an alles andere. Ich habe den Song aber auch als eine ganz persönliche Hommage an Otis Redding aufgenommen. Ich glaube nicht, dass ich davon eine bessere Version hätte machen können, denn das Original ist ein Meisterwerk. Ein sehr kluges, trauriges Lied, das ohne Moll-Akkorde auskommt. Das ist unüblich und sehr seltsam. Der Song bedeutet mir selbst auch insofern sehr viel, weil ich selber einst immer an einem Dock in der Bucht saß, die Schiffe, die hin und her fuhren, beobachtete und mich fragte, ob und wie ich je der mich umgebenden Tristesse entkommen könnte.

»Loving You« wiederum ist ein unter die Haut gehender, gospelartiger Song über Eifersucht. Haben Sie da auch eigene Erfahrungen mit einfließen lassen?

Ich bin 70 Jahre alt, ich habe das ganze Spektrum der Gefühle in Bezug auf die Liebe erlebt: von Schmerz über Eifersucht und Enttäuschung bis hin zu großer Freude. Also kann ich mit einer gewissen Authentizität darüber schreiben. Und doch sind die Geschichten meiner Songs nicht autobiografische. Übrigens: Die schlimmste Art von langweiligem Lied ist nach meiner Ansicht ein Song mit der immer wiederkehrenden Zeile: »Ich liebe dich und du liebst mich.« Denn das ist ein geschlossener Kreis. »Ich liebe dich, aber du liebst jemand anderen« ist hingegen interessanter, weil dreidimensional.

»Every Breath You Take« von Ihrer Band Police war ein Song über Eifersucht, krankhafte Liebe, über zwanghaftes Stalking. Ist »Loving You« eine Art Fortsetzung Ihres Hits von 1982?

Das würde ich nicht sagen. Mich interessiert als Songschreiber die ganze Bandbreite menschlicher Gefühle. Und ich verarbeite natürlich persönlich erlebte, selbst erfahrene.

»Captain Bateman« basiert auf einem alten englischen Volkslied.

Ja, einem Volkslied aus dem 12. Jahrhundert. Captain Bateman war ein Söldner, der in einem Krieg kämpfte, gefangen genommen wurde und dann aus der Haft fliehen konnte, weil er der Tochter des Kerkermeisters versprochen hatte, sie zu heiraten. Es ist eine faszinierende Geschichte über ein gebrochenes Versprechen. Die ursprüngliche Ballade ist 21 Verse lang! Ich habe die Geschichte gekürzt, die Melodie etwas verändert. Aber meine Version beginnt wie die alte Ballade. Ich verwende gerne Volkslieder als Ausgangspunkt und füge etwas Neues hinzu.

Ist diese Geschichte heute noch relevant?

Ich glaube schon, denn auch heute werden Versprechen gebrochen. (lacht) Bateman wird ein edler Lord genannt, aber er benimmt sich nicht sehr edel. In der alten Ballade kommt er damit durch, in meiner Version nicht.

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