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Auf zwei Parteitagen den Tränen nah

Brandenburger SPD und Grüne sprechen zeitgleich über Corona und wählen ihre Landesvorstände

Olaf Scholz macht auf dem Parteitag der brandenburgischen SPD am Samstag große Worte. Der Mann schickt sich an, Bundeskanzler zu werden. Über die angestrebte Koalition mit FDP und Grünen, die ihm zu diesem Amt verhelfen soll, sagt er in Schönefeld: »Da wächst zusammen, was zusammen passt.« Das klingt nach der berühmten Bemerkung des ehemaligen Parteivorsitzenden Willy Brandt zur deutschen Einheit: »Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört.«

Mit diesem historischen Ereignis des Jahres 1990 verglichen wirkt die kommende erste Bundesregierung in den Ampelfarben relativ bedeutungslos. Aber Olaf Scholz hält gleichfalls für »historisch«, was seiner Partei bei der Bundestagswahl am 26. September gelang: Da wäre nicht einmal so sehr der Sieg in allen zehn Wahlkreisen in Brandenburg. Das hat es früher bereits gegeben. Aber der deutschlandweite Wahlsieg, der sei auch deshalb so gut, urteilt Scholz, weil viele schon nicht mehr glaubten, dass die SPD eine Zukunft hat, dass die Geschichte der Partei weitergeht. Ihr Kanzlerkandidat schien gegen Armin Laschet von der CDU keine Chance zu haben. Nun aber steht für Scholz fest, die sozialdemokratische Partei werde auch im 21. Jahrhundert unbedingt gebraucht. Das Regierungsbündnis mit FDP und Grünen, über das am Wochenende weiter verhandelt wurde, sei eine »große Koalition des Fortschritts«, rühmt Scholz.

Auch Brandenburgs SPD-Ministerpräsident Dietmar Woidke kann kaum an sich halten und schwärmt über ein »neues sozialdemokratisches Zeitalter«. Solche Redensarten kommen bei den Delegierten gut an, nachdem die SPD sich bundesweit im Sinkflug befand. Für den emotionalsten Moment des Parteitags sorgt jedoch keiner der Spitzenpolitiker, sondern ein Kreistagsabgeordneter aus Potsdam-Mittelmark: Sichtlich um Fassung ringend berichtet Michael Klenke, eine Corona-Erkrankung überstanden zu haben. Aber er leide immer noch an den Folgen: einer extremen Schädigung seiner Lunge und heftigen Kopfschmerzen. Doch damit nicht genug: Sein alter Vater habe sich nun trotz Maske in einer Arztpraxis mit dem Virus infiziert und liege im Krankenhaus.

Der Parteitag wird nach der 2G-plus-Regel abgehalten. Das bedeutet, die Delegierten müssen geimpft oder genesen sein und zusätzlich getestet. Nach derselben Regel halten am selben Tag auch Brandenburgs Grüne einen Landesparteitag ab. Beide Parteien übertragen ihre Versammlungen im Livestream. Bei den Grünen in Potsdam sind darüber hinaus nur zwei Drittel der Delegierten im Saal, die übrigen digital zugeschaltet.

»Diese vierte Welle ist ein Tsunami und sie wird uns an unsere Grenzen bringen«, prophezeit Brandenburgs Gesundheitsministerin Ursula Nonnemacher (Grüne). Dabei kämpft das Bundesland nicht allein mit der Corona-Pandemie, sondern zusätzlich mit der Afrikanischen Schweinepest und der Vogelgrippe. Auch dafür ist Nonnemachers Ressort zuständig. Dazu meint die Landesvorsitzende Alexandra Pichl: »Wir hätten nicht besser aufgestellt sein können als mit unserer fähigen und unermüdlich arbeitenden Ministerin Ursula Nonnemacher.« Das quittieren die Delegierten im Saal mit stehenden Ovationen. Die so Geehrte erhebt sich von ihrem Platz und winkt dankbar. »Ich war zu Tränen gerührt über euren Applaus«, gesteht sie später.

Grünen-Landesparteichefin Pichl setzt noch einen drauf und behauptet, dank des unermüdlichen Einsatzes der Gesundheitsministerin »sind wir alle geimpft«. Das ist dann aber doch zu dick aufgetragen. Schließlich lief die Impfkampagne zum Jahreswechsel schleppend an und die Telefonhotline zur Terminvereinbarung brachte so manchen Hochbetagten zur Verzweiflung. Das Impfchaos wurde besonders deutlich im Unterschied zur Hauptstadt Berlin, wo sonst wenig funktioniert, das Impfen aber wesentlich besser organisiert war. Nonnemacher musste sich die Mängel und Versäumnisse ankreiden lassen - und es geht schon wieder los. Bei den Booster-Impfungen, der dritten Dosis zur Auffrischung, hängt Brandenburg erneut zurück.

Am Freitag reagierte Linksfraktionschef Sebastian Walter auf Medienberichte über einen Brandbrief des Ministerpräsidenten Woidke an Nonnemacher. Woidke traue seiner Gesundheitsministerin die Lösung der Krise allein nicht zu, so Walter. Woidke fordere »eine Koordinierung und Unterstützung des flächendeckenden Aufbaus von mindestens 100 Impfstellen«. Warum, so fragte Linksfraktionschef Walter, bedürfe es dafür einer Weisung durch den Ministerpräsidenten? Das Gleiche bei den »schriftlichen Einladungen zu den Erst- und Auffrischungsimpfungen an alle über 60-Jährigen«. Walter erinnerte: »Darüber reden wir jetzt seit Monaten. Und nun per Dekret aus der Staatskanzlei?« Besonders unglaublich sei Woidkes Forderung nach »einem zuverlässigen Monitoringsystem, das regelmäßig und umgehend Informationen zu den Impffortschritten der Bewohnerinnen und Bewohner sowie des Personals in Alten- und Pflegeheimen generieren« solle. »Wie ist das denn bisher organisiert worden? Wenn dafür eine Aufforderung notwendig ist, möchte man sich nicht vorstellen, wie es bis heute gelaufen ist«, erklärte Oppositionspolitiker Walter. »Wieder steht die gesamte Impforganisation Brandenburgs zur Disposition. Wieder geht es um offenbar immer noch nicht geklärte Zuständigkeiten. Das alles in der dramatischsten Situation seit Beginn der Pandemie vor nunmehr fast zwei Jahren.« Dem Werkzeugkasten, der angeblich im Kampf gegen die Pandemie zur Verfügung stehe, fehlten augenscheinlich Fachkräfte, die ihn benutzen könnten, bemerkte Walter.

Doch auf dem Potsdamer Landesparteitag verliert Nonnemacher kaum ein Wort dazu. Sie sagt den einen Satz, dass die vierte Welle ein Tsunami sei, und erklärt gleich im nächsten Satz, aber heute wolle sie nicht über Corona reden, sondern über die Pflege der Senioren. Das ist ein großes Thema auf dem Parteitag. Dazu wird ein Video von einer Rundreise der beiden Landesvorsitzenden Alexandra Pichl und Julia Schmidt zu Pflegeeinrichtungen in Brandenburg eingespielt. Sie werden übrigens am Samstagnachmittag mit rund 80 Prozent der Stimmen als Doppelspitze bestätigt.

Auch bei der SPD in Schönefeld wird der Landesvorstand gewählt. Ministerpräsident Woidke bleibt mit 84 Prozent der Stimmen Landesvorsitzender. Seine Stellertreterinnen sind Finanzministerin Katrin Lange (80 Prozent) und Veltens Bürgermeisterin Ines Hübner (82 Prozent). Erstmals zum Generalsekretär gewählt wird David Kolesnyk mit 86 Prozent. Er hatte das Amt bereits kommissarisch inne. Die Funktion des Schatzmeisters übernimmt der Beeskower Bürgermeister Frank Steffen (82 Prozent). Der scheidende Schatzmeister Harald Sempf empfiehlt in seiner Abschiedsrede, dem doch erst 37 Jahre alten Erik Stohn noch eine Chance zu geben und ihn wenigstens als einen von zehn Beisitzern in den Landesvorstand zu wählen.

Erik Stohn war vor David Kolesnyk Generalsekretär. Erik Stohn war auch SPD-Fraktionschef im Landtag - und wurde kürzlich aus diesem Amt verdrängt, worüber er sich bitter beklagte. Bei 19 Bewerbungen für die zehn Beisitzerposten erhielt Erik Stohn mit 40 Stimmen gerade so den letzten noch offenen Platz im Landesvorstand. Zum Vergleich: Für die bestplatzierte Kandidatin gab es 62 Stimmen und für den zweitplatzierten Potsdamer Oberbürgermeister Mike Schubert 56 Stimmen.

Nach knapp fünf Stunden beendet die SPD ihren Parteitag. Die Grünen sitzen da noch sehr viel länger beieinander. Begonnen haben beide Parteitage um 10 Uhr. Manchmal werden zeitgleich die gleichen Themen angesprochen, so etwa die Energiepolitik. Während Pichl in Potsdam betont, die Grünen seien die einzige politische Kraft, die die Grenzen des Wachstums respektiere und sich der Herausforderung stelle, die Klimakrise zu bewältigen, spricht Woidke in Schönefeld von neuen Jobs durch erneuerbare Energien, fügt jedoch hinzu: »Wir sind im Moment noch zu großen Teilen auf fossile Energien angewiesen.« Das gehöre zur Wahrheit dazu, und da sei es respektlos, die Bergleute im Braunkohletagebau als Klimakiller und Menschheitsfeinde zu bezichtigen.

Als Pichl ihre Ausführungen beendet, spricht Woidke weiter. In seine Redezeit in Schönefeld hinein passt auch noch der komplette Auftritt von Grünen-Bundeschefin Annalena Baerbock in Potsdam. Als Dietmar Woidke selig die zehn sozialdemokratischen Gewinner der Bundestagswahlkreise einzeln aufruft und beglückwünscht, schwärmt Annalena Baerbock: »Wir haben unser Ergebnis verdoppelt. Wir sind in Brandenburg über uns hinausgewachsen.« Sie räumt aber auch ein: »Wir sind nicht so groß geworden, wie wir dachten.« Darum wird sie nun nicht Kanzlerin, sondern muss Olaf Scholz den Vortritt lassen. Gleich wird sie ihn wieder bei den Koalitionsverhandlungen treffen. Aus den Gesprächen verrät sie, es sei »schwierig«, wenn drei Parteien zusammenkommen, die zu einzelnen Themen komplett unterschiedliche Ansichten vertreten. Die Grünen hätten dabei »die Nase auch schon mal richtig voll gehabt«. Aber man werde endlich ein modernes Staatsbürgerschaftsrecht bekommen. Das klappe mit SPD und FDP und sei ein großer Aufbruch nach 16 Jahren konservativer Regierung.

Auch Baerbocks Verhandlungspartner Scholz verrät und verspricht etwas: Zwölf Euro Mindestlohn schon nächstes Jahr und »frischen Wind«. Jetzt werde man nicht mehr gehindert von den Konservativen.

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