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Eine stille Revolution

Greifswald - Mekka der Plasmaphysik: Niedertemperaturplasmen helfen beim Beschichten ebenso wie bei der Desinfektion

  • Jacqueline Myrrhe
  • Lesedauer: 8 Min.

Kleingeist ist der Wissenschaft Tod - Austausch und Debatte ihr Lebenselixier. Im Berlin des Jahres 1700 war es Gottfried Wilhelm Leibniz, der seine Kollegen ermunterte, sich in der »Societät der Wissenschaften« zu organisieren, um den Diskurs mit Gleichgesinnten zu suchen. Leibniz, ein exzellenter und interdisziplinärer Denker, mit einer Vorliebe für Verknüpfungen und Analyse von Zusammenhängen, wird heute vornehmlich als Mathematiker oder Philosoph geehrt. Das wird seinen Beiträgen zur Politik, Geschichte, Biologie, Psychologie, Linguistik, Paläontologie und Diplomatie nicht gerecht. Er bedauerte einst: »Beim Erwachen hatte ich schon so viele Einfälle, dass der Tag nicht ausreichte, um sie niederzuschreiben.«

Für Leibniz war Wissenschaft holistisch: verschiedene Disziplinen befruchten und ergänzen sich, Forschung ist ein Service für die Gesellschaft und soll zu greifbaren Ergebnissen führen. Das passt zum Selbstbild der auf Selbstverwaltung, intensivem akademischen Austausch, inhaltliche Verzahnung, Innovation, Spitzenforschung und gesellschaftliche Relevanz zielenden Institute der »Wissenschaftsgemeinschaft Gottfried Wilhelm Leibniz« oder kurz: »Leibniz-Gemeinschaft«. Sie umfasst heute 93 Institute, wovon fünf im Nordosten der Bundesrepublik angesiedelt sind. Ihre Standorte folgen dem Verlauf der mecklenburg-vorpommerischen Ostseeküste und erwecken die Assoziation einer Hanse der Wissenschaft. Tatsächlich sind die Leibniz-Institute in Mecklenburg-Vorpommern ein verborgener Schatz: zu wenig bekannt aber überraschend vielfältig und jedes für sich einzigartig.

Eines davon ist das Leibniz-Institut für Plasmaforschung und Technologie (INP) in Greifswald, das sich auf die anwendungsorientierte Grundlagenforschung zur Niedertemperatur-Plasmaphysik spezialisiert hat. Die Abkürzung INP basiert auf dem Namen des Instituts von 1992 bis 2007: Institut für Niedertemperatur-Plasmaphysik. Die Ursprünge reichen 100 Jahre zurück und liegen in der Greifswalder Schule der Gasentladungsphysik an der Universität der Hansestadt. Das war auch die Zeit, in der Greifswald zum Mekka der Gasentladungsphysik wurde.

Seit 2003 wird das INP von Klaus-Dieter Weltmann geleitet. Unter seiner Führung hat sich die Mitarbeiterzahl auf mehr als 200 verdoppelt. Das ist trotzdem nicht viel angesichts des breiten Spektrums und der zahlreichen Projekte in den zwei großen Forschungsbereichen »Materialien und Energie« und »Umwelt und Gesundheit«.

In ihren fast 50 Laboren erforschen die Experten am INP die Eignung von Niedertemperaturplasma fürs Reinigen, Entkeimen, Aktivieren, Beschichten und Funktionalisieren von Oberflächen. Das Ergebnis sind selbstreinigende Glasfassaden, Verbesserungen für die Photovoltaik, hitzebeständigere Turbinen, Präzisionsoptiken, kratzfeste Schichten, biokompatible Oberflächen für Implantate und Biosensoren - um nur einige Beispiele zu nennen. »Jeder von uns kommt fast täglich mit Produkten in Kontakt, die mit Plasma funktionieren oder die mit Plasma bearbeitet wurden«, resümiert Weltmann. Diese Technologie stecke in Lampen und TV-Bildschirmen; plasmabehandelte Oberflächen seien in der Optik, der Mikroelektronik, der Automobilbranche oder im Werkzeugbau unersetzlich. Das Anwendungspotenzial der Plasmatechnik hält der Wissenschaftler für unterschätzt. »Im Prinzip sind wir schon mitten in einer Revolution - einer stillen Revolution. Es gibt kein Auto, in dem nicht Teile oder Komponenten stecken, die durch Plasmatechnologie bearbeitet wurden. Für Verbraucher sind diese Neuerungen selten sichtbar. Aber hoffentlich spürbar, denn es geht um neue Prinzipien und Methoden bei der Herstellung, um die Verbesserung von Nutzungseigenschaften und die Verlängerung der Lebensdauer von Anlagen oder Gebrauchsgütern.«

Von der Idee zum Prototyp

Im Bereich »Umwelt und Gesundheit« will man »Antworten auf die großen Fragen unserer Zeit« finden, wie es im Imagefilm des Instituts heißt. Die Forscher vom INP haben herausgefunden, dass Niedertemperaturplasma auch Bakterien auf Lebensmitteln abtötet. Plasma ist ebenso geeignet, um Abluft von Schadstoffen, Gerüchen und Keimen zu befreien. Eine spannende Anwendung, an der das INP arbeitet, ist eine Technologie, die biologisch schwer abbaubare Verbindungen wie Arzneimittel aus dem Wasser entfernen soll. Klinische Studien haben zudem die Wirksamkeit von Niedertemperaturplasma für medizinische Anwendungen bewiesen. Zudem startete gerade ein Praxistest für die Reinigung von Abwässern der Zuckerrübenverarbeitung bei der Anklamer Zuckerfabrik.

»In der Plasmamedizin haben wir in kurzer Zeit eine weltweite Spitzenposition erreicht. Jetzt setzen wir Trends«, erklärt Weltmann. »Zusammen mit den Universitätskliniken Greifswald und Rostock, der Charité Berlin und weiteren Partnern erforschen und entwickeln wir Therapien für immer mehr Krankheitsbilder. Der von uns erforschte und patentierte medizinische Plasmajet Kinpen Med hilft bei der Heilung von chronischen Wunden und Hautentzündungen. Inzwischen untersuchen unsere Wissenschaftler auch erfolgreich die Wirkung von kaltem Plasma auf Krebszellen. Drei unserer Wissenschaftler haben ein revolutionäres Verfahren zur Hände-Desinfektion erfunden. Wir haben mittlerweile fünf Ausgründungen auf den Weg gebracht. Der Nutzen für den Menschen ist enorm.«

Das Erfolgsrezept des INP liegt zum einen in der vollen Konzentration auf die Plasmaphysik und die Interdisziplinarität. Zum anderen wird jedes Jahr in einer Klausurtagung die strategische Ausrichtung kritisch betrachtet und wenn erforderlich angepasst oder gar neu ausgerichtet. »Die Ideen kommen von innen und von außen«, betont der Institutsdirektor. »Zum einen sind wir es selber, die die aktuellen Trends beobachten und evaluieren. Zum anderen sind es unsere bilateralen Kontakte mit der Industrie, wo Unternehmen auf uns zukommen. Das Ziel ist dabei, eine Anwendung in die Praxis umzusetzen. Das machen nicht alle Institute so konsequent wie wir.«

Die bislang spektakulärste und gleichzeitig nützlichste Ausgründung war die Plasmaanwendung in der Humanmedizin. Das war der Moment, in dem sich das physikalische Institut in ein interdisziplinäres und stark erweitertes Team verwandelte. Rückblickend war es ein Kraftakt, der nur möglich war, weil alle an einem Strang gezogen haben: die Mitarbeiter, das Bundesforschungsministerium, der Vorstand und die externen Partner.

Plasma - das Formbare

Das Wort Plasma kommt aus dem Griechischen und bedeutet »das Formbare«. In der Natur sind Plasmen allgegenwärtig: das Nordlicht, die Sonne oder Blitzentladungen. Auch die Kernfusion arbeitet mit Plasmen, allerdings von extrem hoher Temperatur.

Vereinfacht gesagt ist Plasma ein Gas mit geladenen Atomen oder Molekülen, den Ionen, und frei beweglichen Elektronen. Es ist ein Aggregatzustand für sich, neben fest, flüssig und gasförmig. Wird zum Beispiel einem Eisblock Energie in Form von Wärme zugeführt, beginnt er zu schmelzen und wechselt in den flüssigen Aggregatzustand. Bei weiterer Energiezufuhr beginnt das Wasser zu verdampfen. Noch mehr Energie regt die Gasmoleküle zu spontanen Kollisionen an, wobei Paare aus freien Elektronen und positiven Ionen entstehen, die bei weiterer Energiezufuhr separieren: ein Plasma ist entstanden. Wird das Plasma einem elektrischen Feld ausgesetzt, wandern Elektronen und Ionen in die Richtung der elektrischen Pole, und ein Strom fließt. Je nach Anwendung fängt die Neonlampe oder der Plasmastrahl dann an zu leuchten. Die Plasmen, mit denen am INP gearbeitet wird, erreichen Temperaturen, die von der Raumtemperatur bis maximal 100 000 Grad Celsius gehen.

Für Weltmann ist Plasma auch eine Art »Cocktail«, denn es sind fünf bis sechs Komponenten, mit denen in den INP-Laboren experimentiert wird: geladene Teilchen, elektrische Felder, Licht, UV-Strahlung, Temperatur und chemische Reaktionen. Die wissenschaftliche Kunst besteht darin, für den gewünschten Effekt die passende Zusammensetzung zu finden. Damit ist Plasma ein universelles Werkzeug, vielleicht eine Art Hammer des 21. Jahrhunderts.

Technologien für ökologischen Landbau

Ein anderer INP-Fokus ist das Projekt »Physics for Food - Eine Region denkt um!«, in dem es um die Anwendung physikalischer Technologien für mehr ökologische Landwirtschaft und Lebensmittelverarbeitung geht. Das gemeinsam mit der Hochschule Neubrandenburg initiierte Projekt bringt mittlerweile rund 20 Partner aus der Region zusammen und erhält Fördermittel des Bundesministeriums für Bildung und Forschung.

Unter Leitung der Biologin Henrike Brust geht die interdisziplinäre Forschungsgruppe »Plasma-Agrarkultur« seit vier Jahren innovative Wege, um nachhaltige Alternativen zum Einsatz chemischer Pflanzenschutzmittel zu entwickeln. Der Ansatz basiert auf den bisherigen Forschungsergebnissen beim Einsatz von kaltem Plasma zum Abtöten von Keimen für medizinische Anwendungen. Die Frage war: Kann Plasma mehr? Vielleicht Pilzsporen auf Saatgut reduzieren? »Plasmaphysik für ein Getreidefeld, das war tatsächlich Neuland«, erinnert sich Henrike Brust. Und die Landwirtschaft hat noch andere Probleme. Der Klimawandel, die Zunahme von Pflanzenkrankheiten und zunehmende Beschränkungen für den Pestizideinsatz verlangen nach Lösungen. »Wir versuchen Alternativen aufzuzeigen, die praxistauglich sind«, betont die Biologin. Sie verweist auf das breite Kompetenzspektrum in ihrer INP-Arbeitsgruppe, wo technische und wissenschaftliche Experten und Expertinnen althergebrachten Problemen mit einer neuen Sichtweise begegnen. Das ist für sie der Schlüssel zum Erfolg. Die Plasmabehandlung von Weizen- und Gerste-Saatgut kann die Keimung deutlich beschleunigen. Diese Ergebnisse aus dem Labor werden nun auf Feldern in Mecklenburg-Vorpommern überprüft. Im Juli konnte im vorpommerschen Zinzow die erste Ernte von plasmabehandelter Wintergerste eingebracht werden. Die Auswertung der Ergebnisse läuft. Zukünftig könnten Plasmaanwendungen im Großmaßstab die ganze Produktionskette unterstützen, von der Produktion gesunden Saatguts über die Stärkung der wachsenden Pflanze bis zur Hygiene bei der Ernte und der pflanzlichen Rohstoffgewinnung. Das eröffnet neue Perspektiven für Unternehmensansiedlungen. Gerade in einer strukturschwachen Region wie Vorpommern ist das ein hochrelevanter Faktor.

Die Arbeit der INP-Forscherin Henrike Brust trägt zur Lösung von regionalen und globalen Herausforderungen bei. Das INP in Greifswald hat die Zukunft im Blick: sich einer veränderten Welt mit nachhaltigen Lösungen zu stellen, um diese Welt besser oder - frei nach Leibniz - zur bestmöglichen, zu machen.

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