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Andersdenkende nicht gleich Feinde

Oberbürgermeister René Wilke (Linke) über seine Partei und über seine Politik in Frankfurt (Oder)

Wenn in fünf Jahren wieder Oberbürgermeisterwahl ist, für welche Partei treten Sie dann an?

Ich lebe im Hier und Jetzt und habe eine ganze Menge zu tun, zum Beispiel bei der Bewältigung der Coronakrise. Ich habe mir noch überhaupt keine Gedanken darüber gemacht, ob ich nach dann acht Jahren im Amt wieder kandidieren möchte. Wenn ich den Willen und die Kraft dazu habe und spüre, eine Mehrheit der Bevölkerung von Frankfurt (Oder) wünscht, dass ich meine Arbeit als Oberbürgermeister fortsetze, dann hoffe ich, wieder eine breite Unterstützung zu erhalten wie im Jahr 2018. Damals hatte mich meine Partei, Die Linke, nominiert. Die Grünen unterstützten meine Bewerbung, aber vor allem waren es weite, nicht parteilich gebundene Teile der Stadtgesellschaft.

René Wilke

Der 37-jährige René Wilke (Linke) ist seit dem 4. Mai 2018 Oberbürgermeister der kreisfreien Stadt Frankfurt (Oder). Bei der Stichwahl im März 2018 hatte er seinen Namensvetter, den vorherigen Oberbürgermeister Martin Wilke (parteilos), klar besiegt. René Wilke lebte als Kind bis 1995 fünf Jahre in Moskau. Er war Wahlkreismitarbeiter des Landtagsabgeordneten Axel Henschke, des Bundestagsabgeordneten Thomas Nord und des Europaparlamentariers Helmut Scholz, bevor er 2014 Landtagsabgeordneter und schließlich stellvertretender Linksfraktionschef wurde. Er ist der erste und bislang einzige Oberbürgermeister der Linkspartei in Brandenburg. Mit ihm sprach für »nd« Andreas Fritsche.

Sind Sie sich sicher, dass es Die Linke in fünf Jahren noch gibt?

Das hoffe ich natürlich. Die Linke wird als soziales Korrektiv gebraucht. Aber sicher kann und sollte man sich niemals sein.

Sie haben kurz vor der Bundestagswahl im September für Wirbel gesorgt mit Ihrer Bemerkung, Sie könnten es leider keiner anderen Partei empfehlen, mit der Linkspartei zu koalieren. Was stört Sie an Ihrer eigenen Partei?

Wenn ich die Linke kritisiere, dann klingt es so, als ob diese Partei schlechter sei als andere. Aber alle Parteien haben ihre Stärken und Schwächen. Die Linke zeigt im Moment die Schwäche, dass sie wenig Verbindung zur Lebensrealität der Bevölkerung hat. Die innerparteilichen Diskussionen bewegen sich teilweise in Sphären, die vom Alltag vieler Menschen weit entfernt sind. Dafür gibt es auch Gründe. Früher zählten wir in Frankfurt (Oder) über 700 Genossinnen und Genossen, von denen etliche im Berufsleben standen. Jetzt sind wir nur noch 200 - und die meisten sind im Rentenalter. Früher gab es praktisch keinen Verein, in dem keiner von uns mitgearbeitet hat. Wir waren ganz nah dran an der Lebensrealität vieler Menschen. Das ist heute leider anders geworden.

Was läuft denn schief in der Partei?

In der Hauptsache sehe ich das Problem darin, dass der Anspruch an die gesellschaftliche Kultur und das eigene Handeln sich so dramatisch unterscheiden. Das erlebte ich nun mittlerweile auch mehrfach selbst, als ich den umstrittenen Satz sagte, ich könne niemandem zu einer Koalition mit der Linkspartei raten. Ich verstehe ja, dass diese Aussage nicht als prickelnd empfunden wurde. Aber einige Reaktionen, die aus der Partei daraufhin bei mir einflatterten, gingen weit unter die Gürtellinie und hatten nichts mit dem Austausch von Argumenten oder Sichtweisen zu tun. Wer die Diskussionskultur in der Linken heute für gut hält, der kann noch nicht lange dabei sein.

Fällt Ihnen dafür noch ein anderes Beispiel ein?

Der Umgang mit Sahra Wagenknecht. Wenn sie etwas sagt, das einigen nicht gefällt, dann wird gleich der Parteiausschluss gefordert. Ich könnte mir in meiner Position nicht leisten, so mit Menschen umzugehen. Ich habe jeden Tag mit sehr unterschiedlichen Menschen und unterschiedlichen Auffassungen zu tun. Das empfinde ich als spannend und bereichernd. Aber einigen bei uns fehlt der Respekt vor anderen Ansichten. Und auch die Bereitschaft, die eigenen Gedanken beständig zu hinterfragen. Inhaltlich bin ich oft weit von Sahra Wagenknecht entfernt. Aber deswegen sage ich doch nicht: Die soll raus aus der Linken! Ich kann Sahra Wagenknecht ohne Wut und Groll gegenüber treten. Ich hoffe, es wäre umgekehrt genauso. Das fehlt meiner Partei: Zu begreifen, dass eine andere Meinung aus einem Menschen noch keinen Feind macht.

Und was gefällt Ihnen an Ihrer Partei?

Dass es bei uns nach wie vor viele Überzeugungstäter im besten Sinne dieses Wortes gibt, Genossinnen und Genossen, die leidenschaftlich gegen Ungerechtigkeit kämpfen. Besonders muss ich da auch an viele ältere Parteimitglieder hier in Frankfurt (Oder) denken, vor deren Lebensleistung ich große Hochachtung empfinde. Das sind einfach dufte Leute.

Das passt aber nicht richtig zusammen: die schlechte Diskussionskultur und die tollen Genossen?

Ich sage ja nicht, dass alle 60 000 Genossinnen und Genossen toll sind. Und dass ich mich in meinem Kreisverband wohl fühle, habe ich immer gesagt.

Wie müsste eine Partei sein, in der Sie restlos glücklich sind?

Ich glaube, es darf gar keine Partei geben, in der man sich restlos glücklich fühlt. Eine Partei, die zu 100 Prozent die eigenen Ansichten abbildet, die kann es nicht geben. Eine Partei mit vielen Mitstreiterinnen und Mitstreitern erfordert immer Kompromisse und die Bereitschaft dazu. Womit wir wieder bei einer Schwäche der Linken wären.

Wie viele Freunde haben Sie mit Ihrer aufsehenerregenden Äußerung vor der Bundestagswahl verloren?

Vorher habe ich während meiner Amtszeit Freunde verloren, jetzt nicht ...

Das war wahrscheinlich Ende 2018, als sie anordneten, die Ausweisung von Flüchtlingen mit großem Vorstrafenregister zu prüfen?

Ja, das war so ein Moment. Aber auch wenn ich jetzt keine Freunde verloren habe, so habe ich doch Weggefährten mit meiner Aussage enttäuscht und verletzt.

Tut Ihnen das leid?

Ja. Obwohl ich inhaltlich nach wie vor zu jedem Satz stehe. Aber ich bedauere, dass ich Menschen, die ich schätze, damit Schmerz zugefügt habe. Auf der anderen Seite habe ich wahrgenommen, dass es durchaus Leute gibt, die es gut finden, dass ich meine Meinung sage und dass man sich darauf verlassen kann.

Würden Sie sich prinzipiell wünschen, dass die Linke auf Bundesebene mitregiert, und wenn ja, warum?

Ich würde mir wünschen, dass Die Linke den Anspruch hat, mitzugestalten. Gestalten lässt sich auch aus der Opposition heraus. Aber es geht besser, wenn man an den Schalthebeln sitzt. Ich wünsche mir eine Herangehensweise wie zu den Zeiten von Lothar Bisky. Der war als Fraktionschef im brandenburgischen Landtag immer Oppositionspolitiker, hat jedoch durch seine sachorientierte Art politisch viel bewirkt. Auf mich wirkt es nicht selten so, als würde vordergründig darauf geschaut, ob wir für einen regierungskritischen Facebook-Post viele Likes bekommen. Stattdessen ist zu fragen, ob bei unseren Aktivitäten etwas Zählbares für die Menschen herausgekommen ist.

Bei der Oberbürgermeisterwahl 2018 haben Sie den AfD-Kandidaten Wilko Möller haushoch besiegt. Bei der Landtagswahl 2019 gewann Möller den hiesigen Wahlkreis. Wie erklären Sie sich das?

Auch bei der Landtagswahl haben knapp 80 Prozent der Frankfurter Wählerinnen und Wähler ihr Kreuz nicht bei diesem Herrn gemacht. Aber im Gegensatz zur OB-Wahl gibt es bei der Landtagswahl keine Stichwahl und es zählt auch weniger das persönliche Moment. Da haben dann rund 20 Prozent für das Direktmandat gereicht. Dass ich zum Oberbürgermeister gewählt wurde, war wohl weniger eine Frage meines Programms. Und das, obwohl wir es mit der Stadtgesellschaft, in Wohnzimmergesprächen und Bürger*innenwerkstätten zusammen entwickelt und ausführlich diskutiert haben. Ich meine, wenn man heute die Mehrzahl meiner Wählerinnen und Wähler fragen würde, was in meinem Programm stand, könnten das bestimmt 70 Prozent nicht sagen. Eine Wahlentscheidung fällt aus einem über Jahre entstehenden Gesamteindruck heraus. Das Programm arbeite ich aber natürlich trotzdem konsequent ab.

Wie und wo haben Sie in den zurückliegenden Jahren als Oberbürgermeister eine Politik aus den Wertvorstellungen heraus gemacht, für die Sie einst in Die Linke eingetreten sind?

Jeden Tag. Ich stelle mir immer die Frage: Stärkt eine Entscheidung Chancengerechtigkeit und Chancengleichheit? Führt sie zu sozialen Verwerfungen? Führt sie Menschen zusammen oder auseinander? Danach handele ich dann. Ich berücksichtige außerdem meine europäische Grundhaltung und das Verhältnis zu unseren polnischen Nachbarn. Ich frage mich: Ist ein Angebot der Stadt für alle Bürgerinnen und Bürger zugänglich? Wenn nicht: Wie lässt sich das ändern? Ich bin dem weltweiten Bündnis Bürgermeister für den Frieden beigetreten. Wir haben die Kitagebühren gesenkt, obwohl der Spielraum in unserem Haushalt sehr klein ist.

Was noch?

Wir haben uns dem Thema Kinder- und Familienarmut angenommen. Nächstes Jahr soll ein Kinder- und Familienbüro starten, das beispielsweise bei der Beantragung von finanziellen Hilfen unterstützt. Das ist wichtig in einer Stadt, in der noch immer zu viele Menschen von Armut betroffen sind. Wir haben einen Bürgerhaushalt eingeführt. Unser kommunales Integrationszentrum ist Ansprechpartner für ausländische Studierende, Zugewanderte und Geflüchtete und in Brandenburg einzigartig. Wir haben Geflüchtete, die mittlerweile in der Ausländerbehörde arbeiten. Zugleich haben wir wichtige Investitionen und Wirtschaftsansiedlungen realisiert. Den Schuldenberg der Stadt haben wir bereits halbiert. Ich könnte noch viele andere Dinge nennen. Wie wir beispielsweise konsequent daran arbeiten, dass in unserer Stadt nicht mit Grund und Boden spekuliert werden kann. Ich sehe mich nicht als jemanden, der einen linksradikalen Kurs verfolgt. Aber ich denke, meine Partei muss sich meiner Politik ganz sicher nicht schämen.

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